Die Sonne knallt so unerbittlich, dass sie sich auf der Haut wie ein heißes Bügeleisen anfühlt. Sogar im Wetterbericht hatten sie gewarnt, man solle einfach in gekühlten Räumen bleiben, ein so genannter Scharav suche Israel heim, ein Wüstenwind mit feinem Sandstaub und Hitze, der aus Afrika kommt.
Die meisten Bewohner der israelischen Kleinstadt Rechovot, etwa zwanzig Kilo-meter südlich von Tel Aviv, sind an diesem Morgen bei der Arbeit oder zu Hause, in ihren klimatisierten Wohnungen. Im Stadtteil Kiriat Mosche aber herrscht Leben, trotz der Hitze. Leben wie in Afrika.
In Kiriat Mosche wohnen äthiopische Juden. Dahinter franst Rechovot in Tankstellen und Autowaschanlagen aus. Kiriat Mosche ist ein äthiopisches Ghetto. Vierstöckige Wohnhäuser, in denen die Klingeln nicht funktionieren. Bürgersteige, deren Asphalt aufplatzt. Ein Ort, wie es ihn in Israel eigentlich gar nicht geben dürfte. Fragt man die anderen Bewohner Rechovots nach Kiriat Mosche, antworten sie: »Passen Sie dort besser auf.« Dabei ist es eigentlich umgekehrt: Israelis passen auf, dass ihnen die Äthiopier nicht zu nahe kommen. Auf dem zentralen Platz von Kiriat Mosche stehen zwei Kioske und ein Verschlag, in dem Mehl hergestellt wird für die äthiopischen Fladenbrote. An die Hitze sind die Äthiopier von Kiriat Mosche gewöhnt, sie haben zu Hause keine Klimaanlagen. Die Stromrechnung könnten sie gar nicht bezahlen. Die älteren Männer und die Fami-lienväter sitzen an diesem Morgen vor den mit Graffiti besprühten Postfächern auf dem Boden eines Hauseingangs. Sie reden angeregt in Amharisch, der äthiopischen Landessprache, manchmal hört man ein Lachen. Doch wenn man sich zu ihnen begibt, verstummen sie, einer versteckt seine Bierflasche, andere stehen auf und setzen sich weg auf eine Bank.
Eine Äthiopierin in einem grellgrünen Kleid kreuzt den Platz, in der einen Hand Rechnungen und eine Postkarte, in der anderen einen Rock, der geflickt werden muss. Sie liefert ihn bei einem äthiopischen Schneider ab, der in der flirrenden Hitze mitten auf dem Platz eine mobile Schneiderei betreibt. Er sitzt im Anzug vor einer alten Singer-Nähmaschine, Schweiß rinnt ihm von der Stirn. Der Schneider begutachtet den Rock von Kassai Balai und sagt auf Amharisch, den Saum werde er auf der Stelle flicken. Mehr sagt er nicht.
Kassai Balai versucht uns das Schweigen der äthiopischen Männer zu erklären: »Sie schämen sich, dass sie keine Arbeit haben.« Sie schämten sich vor uns, den Fremden, aber auch vor ihren Kindern und vor ihren Frauen. Viele litten an Bluthochdruck und Zucker: »Wir sind das Nichtstun nicht gewohnt und auch nicht das Essen hier.« Und der Schneider? Kassai Balai lächelt, zum Vorschein kommt ein goldener Schneidezahn: »Er ist schüchtern.«
In Äthiopien hütete Kassai Balai gemeinsam mit ihrem Mann Ziegen. In Israel putzt sie nun die Toiletten im Gemeindezentrum von Kiriat Mosche. Ihr Mann reinigt tags-über eine Bank, abends zappt er sich wahllos durchs Fernsehprogramm. Er versteht kein Hebräisch. Er fühlt sich zu alt, um eine neue Sprache zu lernen. Kassai Balai selbst tut sich auch schwer mit der fremden Sprache. Worte kommen erst nach langer Suche aus ihrem Mund. Auf die Frage, wie viele Kinder sie habe, rückt Kassai Balai ihr Kopftuch zurecht und fällt in ein Schweigen. »Neun«, sagt sie schließlich »jetzt nur noch acht, mein ältester Sohn ist gestorben.« Er ist nicht lebend von einem Badeausflug mit Freunden zurückgekehrt, er hatte nur versucht, den Alltag von Kiriat Mosche einen Nachmittag lang zu vergessen. Im Mittelmeer ist er ertrunken. »Er konnte nicht schwimmen«, sagt Kassai Balai in einem Ton, als mache sie Israel, das Sehnsuchtsland der äthiopischen Juden, für den Tod ihres Sohnes verantwortlich. In ihre Wohnung will sie uns nicht mitnehmen, der Gatte erlaube das nicht. Aber auch ihr wäre das nicht recht. Das verrät ihr Blick. Sie verschwindet in einem Mehrfamilienhaus mit vergitterten Fenstern, abblätterndem Putz, im Eingang steht eine volle Mülltonne.
Fünf Millionen Juden leben in Israel, Juden aus über 120 Nationen. Der jüdische Staat ist ein Schmelztiegel, wobei die Verschmelzung der Nationen ihre Grenzen hat. Die russischen Juden haben ihre eigenen Fernsehsender, ihre eigenen Discos. Die deutschen Juden haben ihre eigenen Altersheime, eine eigene Zeitung. Die äthiopischen Juden aber haben nichts, außer dem Inhalt der Taschen und Koffer, die sie haben mitnehmen können. Sie hatten nur eine konkrete Vorstellung: In Äthiopien heißt es, Israel sei das Paradies.
Ihre Erfahrungen als Landwirte sind im modernen Israel nichts wert. Auch ihre Verbundenheit mit dem Judentum nutzt ihnen nicht immer. Die Rabbiner in Israel haben zwar schon in den achtziger Jahren anerkannt, dass es tatsächlich einen jüdischen Stamm in Äthiopien gegeben hat, trotzdem müssen viele äthiopische Neuankömmlinge in Religionskursen das Judentum pauken. In zwei großen Heimholungsaktionen hat Israel den verlorenen Stamm Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre ins Paradies geholt. Aber bis heute hat der Staat die Distanz zu seinen schwarzen Bürgern nicht überwunden, Hilfsorganisationen tun mehr für die Äthiopier als die Regierung, sagt der israelische Schriftsteller Tom Segev. Das Misstrauen gegenüber den schwarzen Juden fand schon damals in den Flugzeugen der El Al seinen Ausdruck: Sämtliche Flugzeugsitze waren mit transparenter Plastik-folie überzogen.
Tamar Mogos öffnet vorsichtig die Tür zu der Drei-Zimmer-Wohnung, die sich nahe Kiriat Mosche befindet. Eine Gemüseladen-Besitzerin hat uns angekündigt und gesagt, wenn Tamar sich interviewen lasse, kämen vielleicht Spenden aus Deutschland. Die Gemüseladen-Besitzerin unterstützt Tamars Familie jeden Tag mit zwei Weißbroten und Milch und einmal die Woche mit einem Karton voller Gemüse, Obst, Nudeln, Mehl, einem Huhn und Getränken. Die Mogos sind eine viel zu große Familie für die drei Zimmer: Mutter, Vater und elf Kinder. In den Zimmern stapeln sich Matratzen und Bettdecken, im Wohnzimmer balgen sich fünf kleine Kinder und streiten um ein Stück Nutella-Brot, Tamar bittet um Entschuldigung, dass sie uns jetzt nur Leitungswasser anbieten könne.
Die Eltern sind nicht zu Hause, Tamar sagt, sie schämten sich für ihre Armut und wollten nicht fotografiert werden. Der Ofen funktioniert nicht, gekocht wird auf einem improvisierten Gasherd. Der Kühlschrank ist leer, er tropft und kühlt nicht richtig, die Waschmaschine wäscht, aber sie schleudert nicht, die Wäsche muss mit der Hand ausgewrungen werden.
Tamar Mogos ist 22 Jahre alt und hat nach monatelanger Suche endlich eine Arbeit am Fließband gefunden. »Nichts Tolles, aber ich verdiene Geld«, sagt sie und streicht ihren Jeansrock glatt. Sie könne gar nicht mehr aufzählen, wie oft sie mit den Eltern auf Ämtern gesessen hat. »Immer tröstet man uns, es gebe Familien, denen es noch schlechter gehe.« Die Familie lebt ohne Pläne, ohne Ziel. Mit den Kindern in die Innenstadt zu gehen verbiete sich: »Die sehen dann Pizza und wir können das nicht bezahlen.«
Tamar kann sich nicht entscheiden zu sagen, was schwerer wiegt: das Leben in Armut oder ein Leben als Afrikanerin in Israel. »Wenn ich ein Geschäft betrete, werfen mir die Verkäuferinnen Blicke zu, als würde ich was klauen.« In der Kordelfabrik schauten sie manche an, »als ob ich weniger wert sei«. Und ihre 26-jährige Schwester Tali erzählt, dass sie einmal zu einem Vorstellungs-gespräch eingeladen war, bei dem ihr dann gesagt wurde: »Ach, Sie sind das vom Telefon? Wir suchen aber eine Israelin.«
Heute leben 105 000 äthiopische Juden in Israel. Wer sich auf die Suche nach dem verlorenen Volk begibt, stößt oft auf dasselbe Phänomen: Man will keinen weiteren Bericht darüber, wie schwer es die schwarzen Juden im weißen Israel haben. Die Sprecherin der Vereinigung der äthiopischen Juden in Israel, Nurit Tzazu, weist gleich zu Beginn unseres Gesprächs darauf hin, dass die Medien Äthiopier als Problemthema katalogisiert hätten. Jeder Artikel handle von deren Problemen. Sie ermuntert uns, stattdessen von »Herausforderungen« zu schreiben.
Das fällt schwer. Denn just in jener Woche, in der Nurit Tzazu von Herausforderungen spricht, schreiben die Zeitungen von einer Selbstmordwelle unter äthiopischen Jugendlichen. Der Bürgermeister einer Kleinstadt nahe Tel Aviv verweigert 42 äthiopischen Erstklässlern den Zutritt zur Schule – aus Angst vor Problemen mit den anderen Schülern. Kurz darauf wird bekannt, dass ein von der ultra-orthodoxen Schas-Partei geführter Kindergarten eine rein äthiopische Gruppe gebildet habe, neben einer »weißen«. Die Erzieherin begründet die Farbentrennung damit, dass dies »natürlich« sei. In einer Fernsehtalkshow fragt daraufhin ein Moderator, ob Israelis rassistisch seien.
Auf eine irritierende Weise beschönigend redet auch Balainesch Ajeh. Die 49 Jahre alte Mutter ist die einzige äthiopische Frau in Israel, die es in ein Gemeindeparlament geschafft hat. Sie sitzt im Stadtrat von Kiriat Malachi, einer armen Immigrantenkleinstadt an der Küste nahe Aschdod, die je zur Hälfte aus ultra-orthodoxen Großfamilien und Äthiopiern besteht. Wir sitzen in ihrem Wohnzimmer, ihr zweitältester Sohn kocht äthiopischen Kaffee und will vom Fotografen wissen, wie man Fotograf wird.
Es ist ein aufgeräumtes Wohnzimmer mit Tuschezeichnungen aus Äthiopien und afrikanischen Holzskulpturen. Balainesch Ajeh möchte gar nicht dementieren, dass es Prob-leme gibt. »Aber lassen Sie uns doch auch über die schönen Seiten sprechen in diesem Land.« Also zählt sie die schönen Seiten auf, die Religion, die Gastfreundlichkeit, die Synagogen, den Zusammenhalt. Man würde ihr gern glauben. Aber hat sie nicht die Wahl zur stellvertretenden Bürgermeisterin gewonnen? Und hat der Bürgermeister Motti Malka die Wahl nicht ignoriert und einfach einen (weißen) Landsmann auf ihren Posten gehoben? Und die Äthiopier einmal als »menschliche Kassams« bezeichnet, als Kurzstreckenraketen, wie sie die Palästinenser auf Israel feuern?
Balainesch Ajeh nickt. Ja, stimmt alles, aber sie wolle ihre Energie nicht im Kampf mit dem Bürgermeister verschwenden. Monatelang hat sie versucht, ihren Posten zu bekommen, jetzt hat sie aufgegeben: »Ich bleibe an der Basis, da werde ich gebraucht.« Sie geht in Schulen und erkundigt sich, welche äthiopischen Kinder schwänzen, sie redet mit äthiopischen Eltern, denen die Töchter und Söhne entgleiten, rauchen, kiffen, stehlen. Sie hält inne, zieht die Schultern hoch: »Viele fühlen sich einsam und verlassen, ja, wegen der Hautfarbe. Man hat uns geholt und allein gelassen.«
Ihre Tochter kommt ins Wohnzimmer. Sie ist streng religiös, einen Monat lang hat sie mit den jüdischen Siedlern im Gaza-Streifen gegen den Abzug demonstriert. »Um meinen Kindern erzählen zu können, ich war dabei.« Kurz darauf kommt auch der ältere Bruder nach Hause, Gideon Ajeh, der 33 Jahre alte Berufssoldat, in Uniform. Er lädt uns alle zum Softeis ein. Auf dem Weg zur Eisdiele erzählt er von seinem Alltag. »Die Armee ist mein bester Freund.« Passanten grüßen die Mutter. Am Tisch vor der Eisdiele ist er nicht mehr zu stoppen, so überzeugt berichtet er davon, wie gut es die Äthiopier doch hätten in Israel. Er redet von äthiopischen Marathonläufern, die für Israel Medaillen gewinnen, davon, dass der Lebensstandard in Israel viel höher sei, und fragt: »Welches Land auf der Welt hat schon freiwillig so viele Afrikaner auf einmal aufgenommen?«
Oft gibt man den äthiopischen Einwanderern hebräische Namen, um die Integration voranzutreiben. Auch Inbar Zeneve verlor ihren Vornamen, als sie 1981 zum ersten Mal israelischen Boden betrat: Innerhalb einer Stunde wurde aus der achtjährigen Sindai Inbar. Heute ist Inbar Zeneve 32 Jahre alt, wohnt gemeinsam mit ihrem (weißen) Mann Avi und dem acht Monate alten Sohn Schoham in einem Vorort von Jerusalem. Inbar Zeneve hat sich das erarbeitet in all den Jahren in der neuen Heimat. Sie wuchs in einem »Slum« in Aschkelon auf, wie sie den Stadtteil ihrer Eltern nennt, in der Küstenstadt südlich von Tel Aviv, wo ihre Schulfreunde mit Drogen experimentierten und die Nächte in Clubs verbrachten. »Ich wollte nicht da enden, ich wollte raus«, sagt sie und tröstet ihren Sohn, der gerade einen Heulanfall hat.
Heute arbeitet sie bei der Krankenkasse »Kupat Cholim« und prüft unangekündigt Ärzte und Praxen und Krankenkassenzweigstellen. Und noch immer erntet sie fast täglich »diesen Blick«, wie sie es nennt. Die Leute, die sie besucht, kennen sie vom Telefon, »aber wenn ich dann vor ihnen stehe, ist es nicht genug, dass ich jung und eine Frau bin, sondern auch noch schwarz!« Sie lacht.
Sie nimmt uns in ein äthiopisches Restaurant im Stadtzentrum von Jerusalem mit. Ein Fernseher läuft dort auf voller Laut-stärke, der Salat ist ohne Olivenöl, das warme Humus schmeckt schal, sie sagt: »Meine Eltern kochen tausendmal besser!« Beim Kaffee erzählt sie, wie wohl sie sich in London gefühlt habe, in ihrem letzten Urlaub. »Ich bin durch die Straßen gelaufen und ich hätte auch durchsichtig sein können. Niemand hat mich angestarrt oder mir hinterhergeguckt wie hier.« Die Israelis seien Weltmeister im Reisen, aber wenn die große weite Welt zu ihnen komme, falle es ihnen schwer, »das Andere« zu akzeptieren. »Die Israelis müssen noch viel lernen.«
Am nächsten Tag sind wir mit Helen Masala verabredet, einem Fotomodell aus Aschdod. Wir treffen uns vor einem Einkaufszentrum, Helen möchte uns nicht in ihrer Wohnung empfangen, wo sie mit acht Geschwistern und dem Vater lebt. Sie blättert in einem ID-Magazin mit Kate Moss auf dem Titel. Helen schwärmt für Kate, von dem Kokain-Skandal hat sie nichts mitbekommen. In der Mall zieht Helen alle Blicke auf sich. Es sind keine abschätzigen Blicke. Sie genießt das. In einem Café bestellt sie Mineralwasser, schlägt die langen Beine übereinander und erzählt von Äthiopien. Erst vor einem Monat war sie dort, das erste Mal nach dem Umzug nach Israel vor 13 Jahren. Sie hatte bei einem Schönheitswettbewerb einen Freiflug gewonnen – und entgegen den hysterischen Ratschlägen ihrer Freundinnen, nach New York oder Paris zu fliegen, um ein Ticket nach Addis Abeba gebeten. »Äthiopien ist meine Seele«, sagt Helen. Die Reise in die Vergangenheit habe ihr gezeigt, dass Israel die richtige Entscheidung war. In ein paar Tagen beendet sie ihren Armeedienst und will sich dann ganz dem Modelberuf widmen, Schauspielunterricht nehmen. »Die Chancen, die ich in Israel habe, hätte ich in Äthiopien nicht«, sagt sie und zeigt uns einen Süßigkeitenkatalog, für den sie zuletzt fotografiert wurde.
Foto: ap