Peer Steinbrück war einst Finanzminister von Deutschland. Als solcher trompetete er heraus, die schwarze Liste unkooperativer Steueroasen sei wie eine Kavallerie: »Die kann man ausreiten lassen. Aber die muss man nicht unbedingt ausreiten lassen. Die Indianer müssen nur wissen, dass es sie gibt.«
Dass eine schwarze Liste reiten kann, das ist eine Sache, die sicherlich interessant ist. Viel interessanter für uns aber ist: Mit Indianern waren wir gemeint: wir, die Schweizer. Die Menschen also, welche jenes bergige Land bewohnen, wo Milch und Schokolade fließen und in dem die Deutschen so gern ihr Geld verstecken. Natürlich nahmen wir das dem Herrn Steinbrück sehr übel und die Sache besser machte auch nicht der damalige SPD-Chef Franz Müntefering, als er nachlegte und mit Blick auf die Steueroasen in aller Welt sagte: »Früher hätte man dort Soldaten hingeschickt. Aber das geht heute nicht mehr.«
Es war nicht der Anfang von so etwas wie einer problematischen Beziehung zwischen den Schweizern und den Deutschen, denn diese schwelt schon lange. Es war eine Verschärfung dieser.
Und ein mancher Schweizer dachte, was er immer noch denkt: Sollen sie doch kommen, die Deutschen, sollen sie doch Truppen schicken. Soll die Kavallerie nur ausreiten!
Denn die Schweiz hat nicht nur eine Armee, sondern Bürger, und diese Bürger haben ein Buch, und in diesem Buch steht alles. Wirklich alles. Es heißt Der totale Widerstand – Kleinkriegsanleitung für jedermann.
Geschrieben hat das Buch im Jahr 1957 ein damaliger Hauptmann der Schweizer Armee, Hans von Dach. Es wurde vom Schweizerischen Unteroffiziersverband (SUOV) verlegt. Im Vorwort schreibt der Autor, wozu das Buch gedacht ist: »Nehmen wir an: Die Schweiz ist zum Kriegsschauplatz geworden!« Und: »Der Feind hat eine Stadt besetzt.
Die Bevölkerung ist unter seine Botmässigkeit geraten. Was tut in diesem Fall der Arbeiter, der Angestellte, der Freierwerbende? Was tut der Lehrer, der Zeitungsredaktor, der Arzt, der Beamte im öffentlichen Gemeinde-
wesen?« Und: »Eines ist sicher: Der Feind wird keine Gnade kennen.«
So wurde Der totale Widerstand als Anleitung für Herrn und Frau Schweizer verfasst, was zu tun ist im Falle des Falles, und damals in der Zeit des Kalten Krieges war mit diesem Fall natürlich gemeint, dass die Roten aus dem Osten kommen.
Hans von Dach unterrichtet die Nation mit dieser fiesen Fibel im Überlebenskampf: wie man Schnecken als Nahrungsmittel nutzen kann und auch Katzen, Hunde, Frösche, inklusive Kochanleitung. Wie man improvisierte Sprengladungen »zur Bekämpfung lebender Ziele baut«.
Wie man lautlos einen Wachposten »erledigt« (nämlich mit dem stumpfen Ende eines Beils). Wie man Straßennetze sabotiert, am besten Einzelfahrzeuge überfällt und diese dann zerstört (»1. Schraube den Deckel des Benzintanks auf. 2. Nimm einen …« – Jetzt kommen ein paar Abschnitte, die man an dieser Stelle nicht zitieren darf, sonst bekommt man es mit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften zu tun, aber den letzten Punkt wollen wir nicht vergessen: »6. Renne vom Fahrzeug weg.«)
Wie man auf einfachste Art eine Starkstromleitung sabotiert oder eine Eisenbahnstrecke. Wie umzugehen ist, wenn man gefoltert wird (»Letzter Ausweg: Rufe provozierend ›lang lebe X . . !‹ und nenne den Namen eines bekannten Staatsfeindes, den alle als Symbol des Widerstandes kennen.
Damit kannst du vielleicht deine Peiniger zu besinnungsloser Wut aufstacheln, sodass sie dich gegen ihre Interessen rasch totschlagen«). Und wie man sich allgemein taktisch zu verhalten hat (»Gehe mit Vorsicht und List, ja Verschlagenheit ans Werk.«).
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Es kann kein Zufall sein, dass es in der Schweiz geschrieben wurde, denn die Schweiz ist ein sonderbares Land)
Auf 290 Seiten erfährt man alles, was man über Kleinkrieg wissen muss.
Das Buch ist ein sehr sonderbares Buch. Und es kann kein Zufall sein, dass es in der Schweiz geschrieben wurde, denn die Schweiz ist ein sonderbares Land.
Hier nochmals die wichtigsten Unterschiede zwischen der Schweiz und Deutschland zum Mitschreiben: Die Schweiz ist nicht in der EU. Wir Schweizer sprechen im nördlichen Gebiet eine andere Sprache, obwohl es dieselbe ist. Wir sagen »Penalty« und nicht »Strafstoß«.
Es gibt nebst Deutsch noch drei weitere gleichberechtigte Landessprachen. Wir reden viel weniger als die Deutschen. Wir sind von manchmal angestrengter Bescheidenheit. Wir sind sensibel und ob unserer Klein- und Eigenheit auch ein bisschen komplexbeladen.
Wir sind harmoniesüchtig und mögen keine Hierarchie. Dinge werden bei uns von Ort zu Ort anders geregelt (man nennt dies Föderalismus, man kennt ihn ja auch in Deutschland, hier aber ist er ein zelebrierter Extremsport).
Der Deutsche ist überzeugt davon, dass der Staat sich um das Schicksal seiner Bürger kümmern muss; in der Schweiz bestimmt das Volk – der Staat hat dann für die Umsetzung zu sorgen. Wir pflegen unsere Marotten: Unsere Armee etwa war die weltweit letzte, die noch eine Radfahrertruppe einsetzte; erst vor wenigen Jahren wurde diese abgeschafft. Ja, wir tun uns schwer mit dem Aufbruch in die Moderne, und ja: Wir haben aber schon elektrisches Licht. Wir sind gern freundlich, außer zu Deutschen, manchmal.
In Deutschland wurde von Dachs Werk 1988, siehe oben, auf den Index gesetzt, denn es sei »geeignet, Kinder und Jugendliche sozialethisch zu verwirren und ihre Neigungen zur Gewaltanwendung zu fördern«. Die Bundesprüfstelle begründet weiter: Durch die Schrift könnten insbesondere ungefestigte Jugendliche zur Verwertung der Anleitungen zum totalen Widerstand »gegen unsere freiheitlich-demokratische Rechtsordnung verführt« werden.
Diese könnten sich darauf berufen, »dass sie meinen, wenn dies in der Schweiz zulässig sei, müsse das erst recht in anderen Staaten zulässig sein, da die Schweiz ja als Musterland der Demokratie gilt«. Der totale Widerstand wurde in den Siebzigerjahren eifrig von der RAF genutzt. In der Schweiz gehört es heute zum Inventar jeder Skinheadbibliothek. Weltweit ist es bei Anarchisten und irgendwie sonst wie Extremen ein beliebtes Kochbuch.
Von Dach hatte mit seinem Werk natürlich ganz anderes im Sinn. Im Schlusswort schreibt er: »Wir werden diese Schlacht bestehen, weil jeder Schweizer und jede Schweizerin zuhinterst im Herzen – auch wenn sie zu spröde oder zu nüchtern sind, dies im Alltag zuzugeben oder gar auszusprechen – an das alte und doch wieder brennend aktuelle Wort glauben: ›Lieber den Tod, als in der Knechtschaft leben!‹«
Also: Kavallerie kann kommen. Buch bereit!
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Max Küng, 41, ist Schweizer, kannte die Kleinkriegsanleitung bisher aber noch nicht. Den Hinweis auf das Buch bekam er von Hasso Bräuer. Herr Bräuer hat ein Antiquariat in Hamburg. Dort wird er demnächst eine künstlerische Lesung aus der Kleinkriegsanleitung aufführen, bei der auch Schweizer Schauspieler mitwirken werden. Mehr zu seiner Kunstaktion unter www.antiquariat-braeuer.de.