Neueste Erhebungen der Technischen Universität Bad Schwürbelbach haben ergeben: 96,7 Prozent aller Ereignisse weltweit sind überflüssig. Es geschieht viel zu viel. Kaum sind die Aktienkurse gestiegen, sinken sie wieder. Kaum hat man Urlaub gemacht, muss man ins Büro. Kaum sind die Olympischen Spiele vorbei, muss man Fußball schauen. Hinzu kommen vollständig sinnlose Geschehnisse wie die Tatsache, dass in dem italienischen Dorf, in dem ich meine Ferien verbrachte, der Buchladen durch ein Kochschürzenbestickungsfachgeschäft ersetzt worden ist, in dem man sich das Wort capocuoco auf seine Schürze nähen lassen kann. Das bedeutet »Chefkoch«, aber es ersetzt keinen Roman von Donna Tartt.
Die Menschen sind von der Flut dessen, was geschieht, überfordert, sie schauen im Rhythmus von Minuten auf ihre Mobilgeräte, um nichts zu verpassen. Sie verstopfen ihre Kurzzeitgedächtnisse mit Informationen zur wirtschaftlichen Lage Italiens, der politischen Situation im Kreistag Vorpommern-Greifswald oder der momentanen Stimmung im Hause Clooney. Ihre Langzeitgedächtnisse sind ohnehin schon nicht mehr vorhanden, weil der Platz für die Verarbeitung des Täglichen benötigt wird. Sie, die Menschen, werden nervös, ja: hysterisch.
Ereignisbekämpfung ist deshalb das Gebot der Stunde. Wir müssen dafür sorgen, dass weniger geschieht. Vorbildlich: das Land Österreich, in dem es gelungen ist, eine Bundespräsidentenwahl zu verschieben, die erneut die Aufmerksamkeit des gesamten Kontinents zu beanspruchen drohte. Wie jeder weiß, handelt es sich dabei schon um die Wiederholung dieser Wahl, eine alarmierende Tatsache: dass Ereignisse in der Geschehnisflut unserer Zeit schon nicht mehr auszureichen scheinen, sondern auch noch repetiert werden müssen – woraus die Österreicher den einzig sinnvollen Schluss zogen: Die Wahl gibt es erst mal nicht, vielleicht im Dezember, wer weiß das schon?
Mancher sagt nun, das sei eine Katastrophe, weil demokratische Zentralmechanismen wie die Wahl nicht funktionierten. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall: Obwohl die Wahl nicht stattfindet, funktioniert das Land Österreich weiterhin, jedenfalls im Rahmen seiner Möglichkeiten. Übertragen wir das auf einen größeren Rahmen, die USA zum Beispiel, könnte man sagen: Würde sich die Präsidentenwahl dort im November nicht ereignen können, müsste fürs Erste Barack Obama Präsident bleiben. Und was könnte uns Besseres passieren?!
Vorreiter auf dem Weg zu einer Welt des Nichtgeschehens ist seit eh und je die Stadt Berlin, in der es seit Jahren gelingt, die Eröffnung eines Flughafens namens BER nicht stattfinden zu lassen, ein so vorbildlicher Zustand, dass mancher von uns diesen Flughafen schon vergessen hätte, würden nicht Ereignisfetischisten immer wieder seine angeblich dringend notwendige Einweihung herbeizuzetern versuchen. Ihnen sei nun die Lektüre eines Berichts im Tagesspiegel nahegelegt, in dem ein neues Verkehrsgutachten zitiert und für den Fall der Inbetriebnahme des BER sofort riesige Staus auf den Zufahrtsstrecken vorhergesagt werden, ja, von »Kollaps« ist die Rede.
Natürlich entgegnen nun jene, denen in der Welt nicht genug geschehen kann, genau das sei der Beweis dafür, wie dringend notwendig der Airport sei: Immer mehr Menschen wollten nach Berlin fliegen oder von dort verschwinden, man müsse also neue Autobahnen zum Flughafen bauen, und, o Schreck!, danach einweihen.
Die Vernünftigen aber, die angesichts unserer Überforderung für den ruckartigen Stillstand der Welt plädieren, lesen das Zitat eines Experten, der gesagt hat: »Der eigentliche Schrecken des BER ist der Tag seiner Eröffnung.« Ja, so ist es in Berlin, so war es in London nach der Brexit-Abstimmung, und deshalb lasst uns das Loblied auf die Verschiebung singen, denn wo nichts geschieht, da ist auch kein Schrecken.
Illustration: Dirk Schmidt