In der Zeitung las ich, der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner habe »mit Blick auf die Frage«, ob die SPD weiterhin für ein Bündnis mit der Partei Die Linke offen sein solle, vor »Ausschließeritis« gewarnt.
Es war früh am Morgen, ich ließ die Zeitung sinken und dachte über die Wendung »mit Blick auf die Frage« nach, die darauf schließen ließ, dass Stegner die Frage schriftlich vorlag. Wie sonst hätte sein Blick auf die Frage gerichtet sein können? War es denkbar, dachte ich weiter, dass man ihm eine Mail mit der Frage geschickt hatte? Gewiss, aber auf welche Weise hatten die Berichterstatter erfahren, dass Stegner vor seinem Computer wirklich »mit Blick auf die Frage« geantwortet hatte? Sie hatten ihn beim Verfassen seiner Antwort nicht sehen können. Vielleicht war sein Blick auf die Tastatur gerichtet gewesen? Oder ins Leere? Oder auf ein Martin-Schulz-Foto?
Ich erhob die Zeitung wieder und empfand, nun mit Blick auf das Wort Ausschließeritis, einen Ekel vor diesem Begriff. Aber warum? Die Endung -itis bezeichnet ja in der Regel eine entzündliche Krankheit. Eine Colitis ist eine Entzündung des Colons, also des Dickdarms. Bei einer Gastritis ist der Magen, griechisch gaster, betroffen. Logischerweise müsste bei der Ausschließeritis der Ausschließer entzündet sein. Aber wo sitzt er? Und was heißt Ausschließer auf Griechisch?
Jedenfalls erklärt das einen Teil des Abscheus. Wer denkt gerne an einen entzündeten, gar eiternden Ausschließer?!
Ich las dann im Internet, der Begriff leite sich vom Verb ausschließen ab, sein Erfinder sei der hessische Landesvorsitzende der Grünen, Tarek Al-Wazir. 2009 habe er als erster Mensch »Ausschließeritis« gesagt. Er habe davor warnen wollen, zu viele Koalitionsmöglichkeiten mit anderen Parteien auszuschließen; am Ende sei man doch zu einer solchen Zusammenarbeit gezwungen und müsse sein Wort brechen. So hat das auch Stegner gemeint: Lasst uns eine Koalition mit der Linken auf keinen Fall ausschließen, vielleicht brauchen wir die Typen noch!
Jedenfalls ist das Wort in den Sprachgebrauch deutscher Politiker und Journalisten übergegangen, es ist Teil dieser schauderhaften Spezialsprache geworden, die sie benutzen, andere Beispiele sind (der Autor Benjamin von Stuckrad-Barre hat vor Jahren Hunderte davon in der Welt zusammengestellt): am rechten Rand fischen, auf dem Rücken der Steuerzahler, einer Ohrfeige gleichkommen, draufsatteln, europapolitischer Geisterfahrer, bayerischer Zampano, ordnungspolitischer Weckruf, sich in puncto Versorgungssicherheit seitlich in die Büsche schlagen, auf Eis liegender Dauerbrenner Gesundheitsreform …
Keines dieser Wörter, nicht eine einzige dieser Wendungen würde von einem normalen Menschen jemals verwendet werden. Kein Vater erwartet von seinem Sohn, der mehr Taschengeld verlangt, ein »abgespecktes Forderungspaket«. Keine Ehefrau sagt zu ihrem Mann, der nicht schon wieder die Geschirrspülmaschine ausräumen möchte, »diese bittere Pille wirst du schlucken müssen«.
So sprechen nur Politiker, und wäre ich ein solcher, würde mir das in Zeiten, in denen die Zeichen auf Sturm stehen, zu denken geben. Denn dies ist, man muss es unumwunden zugeben, ein wunder Punkt der Politik! Eine unbequeme Wahrheit, ich weiß. Aber hier darf man nicht auf Zeit spielen, hier muss man sich – auch wenn das alles andere als ein Spaziergang wird – ehrlich machen, bevor das Tischtuch zerschnitten ist. Hier gilt es, verlorenes Terrain gutzumachen. Im Dialog mit dem Bürger.
Und mit Blick auf die Wähler, selbstverständlich.
Habe ich mich auch für Sie verständlich ausgedrückt, Ralf Stegner?
Illustration: Dirk Schmidt