Jetzt ist Kürbiszeit, Halloween war schon, überall auf dem Land liegen Kürbisse am Straßenrand. Ich weiß nicht, warum, aber ich muss an den Teilchenbeschleuniger in Genf denken, der gleich nach Inbetriebnahme für ein halbes Jahr wieder außer Betrieb gegangen ist. Könnte man in dessen unterirdischen Hochgeschwindigkeitsröhren nicht fürs Erste Kürbisse beschleunigen und aufeinanderklatschen lassen? Es könnte nicht schaden, mehr über das Verhalten von Kürbissen bei exorbitanten Geschwindigkeiten zu wissen. Das Planetensystem ist, bei genauer Betrachtung, eine Ansammlung umeinanderkreisender Kürbisse und, na ja… Es wäre ein Spaß, oder?
In der Frankfurter Allgemeinen habe ich ein Interview mit Jos Ghaye aus Belgien gelesen. Ghaye ist Europameister im Kürbiszüchten, er hat einen Kürbis von 610 Kilogramm auf die Waage gebracht, »Atlantic Giant« mit Namen. Auf einem Foto sieht man Jos Ghaye neben dem Kürbis, der bleichgelb und irgendwie bekümmert aussieht, als wäre er lieber eine Erdbeere. Kein Wunder: Neben dem Foto steht die Frage an Kürbismeister Ghaye, wie oft es bei ihm Kürbis zu essen gebe, und der Mann sagt: »Eigentlich nie. Ich mag keinen Kürbis.« Andererseits sagt Ghaye, es sei toll, Kürbisse zu züchten, man könne sie quasi beim Wachsen beobachten, sie nähmen pro Tag 15 bis 20 Kilogramm zu, aus feucht-modrigem Boden und reichlich Kompost ihre Nahrung ziehend, und »man kann förmlich sehen, wie der Kürbis den Sand unter sich wegschiebt«. Lieber »Atlantic Giant«! Siehst du nicht, dass dein Besitzer dich um deiner selbst willen liebt? Nicht deines Geschmacks halber, sondern wegen deines Kürbisseins?
Man möchte, wenn man das liest, sofort mit Kürbiszucht beginnen. Dieses wunderbar langsam schiebende Kürbiswachstum betrachten, während einem die hysterische Welt vor der Gartentür egal ist. Allein, dass ich Fantasien wie eingangs die mit dem Kürbisbeschleuniger habe: brutal, nicht wahr? Irgendwie entfremdet. Man hat zurzeit das Gefühl, als laufe in dem Blick, den man auf die Welt wirft oder die Kinder oder die eigene Frau, unten ein Nachrichtenband mit, auf dem die neuesten Finanzkrisentatsachen verzeichnet sind, der ganze Zertifikatewahnsinn, Aktienkurse, Wahlergebnisse, Bundesliga-Resultate. Man hört, ohne dass eine Uhr in der Nähe wäre, die Zeit ticken. Dabei möchte man nur das schiebende Geräusch eines wachsenden Kürbis vernehmen. Nirgendwo sonst auf der Welt mehr sein.
(Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite: Wann wird man den Nacktflug einführen, bei dem man sich schon am Flughafeneingang entkleiden muss)
Bitte, ich steigere mich da hinein, aber man liest zum Beispiel von Nacktscannern, die uns an den Flughäfen bis ins Innerste ausleuchten sollen. Wann wird man den Nacktflug einführen, bei dem man sich schon am Flughafeneingang entkleiden muss, um erst am Ziel seine Sachen wieder in Empfang nehmen zu dürfen? In einer Zeitung sah ich das Foto eines chinesischen Flugzeuges, das nach der Landung kaputtgegangen war. Die Passagiere mussten aussteigen und es zum Abfertigungsgebäude schieben.
Wird der Tag kommen, an dem wir alle, nackt und bloß, unsere gerade gelandeten Maschinen zum Gateway zu zerren haben? Werden wir, am Ende weiterer Ölkrisen, bevor wir selbst fliegen dürfen, das vor uns startende Flugzeug über die Runway drücken müssen, im rasenden Stakkato unserer Beine, bis der verfluchte Blechvogel sich erhebt, von uns in den Himmel geschubst?
Wohin wollen wir, mit diesem Leben?
Jos Ghaye sagt, das Schönste am Kürbiszüchten sei das Zusammensein im Kürbisclub, die Atmosphäre dort, »wenn wir abends unser Bier trinken«.
Schön ist es auch, hier am Schreibtisch einem fetten Text beim Wachsen zugesehen zu haben, wie er aus feucht-modrigem Hirn seine Nahrung zog und mit dem typisch-schrubbenden Zeilengeräusch über dem Schreibtisch sich ausdehnte, bis er erntereif war.
Und nun ab zum Bier in den Kolumnistenclub, wo uns beim Zusammensein die Welt am Arsch vorbeigeht!
Illustration: Dirk Schmidt