Kürzlich träumte ich Folgendes: Ich erfahre (ohne dass ich
kandidiert hätte) von meiner Ernennung zum Bundeskanzler. Unverzüglich eile ich zum Kanzleramt, vor dem bereits eine große Menschenmenge wartet, schweigend. Man mustert mich ohne jede Regung.
Es ist ein herbstlich dunkler Abend, das Amt ist erleuchtet, ich gehe zum Haupteingang: geschlossen. Ich schaue durch ein Fenster, sehe drinnen die Mitarbeiter aufgereiht, in Erwartung, wie ein Empfangskomitee. Jemand hält einen Blumenstrauß. Ein Mikrofon steht bereit, auch ein Buffet. Ich klopfe an die Scheibe. Niemand reagiert. Ich betätige
den Klingelknopf. Es geschieht nichts. Auf mein Sprechen in die Sprechanlage gibt es keine Antwort. Ich rufe hinein: »Mein Name ist Hacke, ich soll hier heute als Bundeskanzler anfangen.« Nichts. Auch aus der Menschenmenge keine Reaktion, außer dass die Ersten bereits gehen, stumm und grau.
Ich beginne an den Seiten des Hauses nach einem weiteren Eingang zu suchen, versuche mit einem Polizisten hinter dem Zaun ein Gespräch anzufangen, doch er verhält sich, als gäbe es mich nicht. Als ich zum Haupteingang zurückkehre, sind die Leute in der sich senkenden Nacht verschwunden. Noch einen Blick werfe ich durchs Fenster: Ohne weitere Gemütsregungen räumen die Menschen darin Mikrofon und Buffet ab.
Der erste Politiker, dem ich in meinem Leben begegnete, war mein Großvater. Er gehörte der SPD an und war Bürgermeister des Dorfes, in dem ich meine ersten Lebensjahre verbrachte. Nachmittags spazierte er mit einem Dackel namens Waldmann an der Leine durch den Ort. Wenn ich gemeinsam mit dem Sohn des Bäckers und dem des Feuerwehrkommandanten das Wasser im Dorfgraben aufstaute, um Schiffchen fahren zu lassen, zeigte er mit seinem Gehstock auf den Staudamm und sagte, das müssten wir nachher aber wieder wegmachen.
Sehr erregte sich mein Großvater stets über den Oppositionsführer im Gemeinderat, er hieß Schubmann. Oft hörte ich ihn, wenn er von einer Sitzung zurückkehrte, »dieser Schubmann!« rufen und meiner Großmutter Vorträge halten, welchen Unsinn »dieser Schubmann!« geredet habe.
Generell ging man ja in jenen Jahren Politik mit größerer Leidenschaft nach als heute. Ob das gut war? Eines Tages fiel mein Großvater auf dem Heimweg vom Gemeinderat vor dem Haus tot um. Nicht auszuschließen, dass seine letzten Worte mit Schubmann zu tun hatten.
Ich bin zu faul für die Politik. Sie wäre mir zu anstrengend. So geht es den meisten, nicht wahr? Wenn das so ist, finde ich, darf man sich nicht über die Politiker beschweren, die wir haben. Und man sollte sie nicht an den Kriterien der Entertainment-Gesellschaft messen, in der wir leben.
»Wenn wir im Theater so langweilig wären, würden wir vor einem leeren Haus spielen«, hat der Intendant Peymann nach dem Fernsehgespräch von Merkel und Steinmeier gesagt; er habe Sehnsucht nach Sarkozy und Berlusconi, »weil das lebende Wesen sind«. Meinetwegen: ins Theater mit Berlusconi! Ich liebe Langweiler in hohen Ämtern.
Das einzige politische Amt, das ich je bekleidete, war das des Schatzmeisters der Jungdemokraten in meiner Heimatstadt. Die Jungdemokraten waren die linksradikale Jugendorganisation der FDP, so was war in den Siebzigerjahren möglich.
Uns schwebte eine Wirtschaftsordnung wie in Jugoslawien vor. Wobei keiner von uns je in Jugoslawien gewesen war, allerdings tagten wir »beim Jugoslawen«, meist zu viert oder zu fünft, da musste jeder ein Amt übernehmen. Ich legte das Vermögen der Organisation, einige hundert Mark, auf einem Postsparbuch an und trat nach wenigen Monaten erfolgreichen Wirtschaftens zurück, weil ich die Stadt zum Studium verließ.
Was hätte aus mir werden können, wenn ich in der Politik geblieben wäre? Immerhin bin ich nur zwei Wochen jünger als Frank-Walter Steinmeier. Und wir träumen beide vom Kanzleramt, jeder auf seine Weise.