Seit mehr als einer Woche gehen mir diese Bilder nicht mehr aus dem Kopf: Wie dieser Medizinprofessor dem Publikum die Zustände im Körper der wegen Dopings gesperrten Eisschnellläuferin Pechstein verständlich zu machen versucht, indem er ein großes rotes Sitzkissen hochhält, es dehnt, quetscht und verbiegt, wobei das Sitzkissen in diesem Moment kein Sitzkissen mehr ist, sondern ein rotes Blutkörperchen.
Für einen Moment stellte ich mir vor, das Sitzkissen sei wirklich kein Sitzkissen mehr, sondern tatsächlich ein den Pechstein’schen Adern entnommener Blutkörper, welcher sich an der frischen Luft auf abnorme Ausmaße vergrößert hat. Es gibt ja Tiere, die in der tiefsten Tiefsee durch enormen Wasserdruck zusammengepresst werden, in oberen Regionen sich aber plötzlich ausdehnen, ja, zerplatzen. So müsste es, stellte ich mir vor, auch mit diesem aus der Pechstein hervorgefischten Erythrozyten geschehen sein, der unter dem extremen Leistungsdruck drinnen in der erfolgreichsten deutschen Wintersportlerin mikroskopisch klein war, dann aber, draußen, im schlaffen, leistungsfeindlichen, spätrömisch-dekadenten Klima der Bundesrepublik zu hypertropher Größe auseinanderschwoll.
Als ich den Medizinmann in der Sprache seines Stammes über Pechsteins bedauerliche (andererseits doch ihrer Leistungsfähigkeit sehr zuträgliche, zudem vor Wettbewerben immer erstaunlich akut gewordene) Erkrankung namens »hereditäre Sphärozytose« reden hörte, als er von »Mittleren Korpuskulären Hämoglobinkonzentrationen« sprach und »mikrozytären Erythrozyten«, fiel mir ein sehr langes Wort ein, das ich kürzlich beim Magenarzt kennengelernt hatte: Ösophagogastroduodenoskopie, das ist eine Kamerafahrt durch Speiseröhre, Magen und Zwölffingerdarm zur Auffindung eventueller Krankheiten.
Man lernt auf diese Weise (hinterher, auf den Fotos!) sein Inneres in einer Weise kennen, wie es vorher nur in Science-Fiction-Filmen zu sehen war: schmale weiß-rote Röhren, Körpertunnel von leicht welliger Oberfläche. Ja, man würde gern sein eigenes Gehirn mal so durchfahren, zwischen klitzekleinen Empfindungen und blendenden Gedankenblitzen herumsausen, die draußen an der Luft, einmal ausgespro-chen oder niedergeschrieben, sich zu sitzkissenhafter Größe entfalten würden.
Mir fiel der Film The Fantastic Voyage ein, in dem vor mehr als vierzig Jahren einige Wissenschaftler, unter ihnen Raquel Welch, sich mikroskopisch klein machen lassen, um in einem tschechischen Wissenschaftler eine schwierige Gehirnoperation vorzunehmen. Ich dachte, was es für ein Gefühl sein müsste, Raquel Welch in den Adern zu spüren, ja, im Herzen: wie ihr Körper an einer sich öffnenden Herzklappe vorbeihuscht und ihre Hände sanft an den Empfindungszentren herumoperieren.
Auch musste ich an Woody Allen in Was Sie schon immer über Sex wissen wollten denken; er spielt ein Spermium beim Geschlechtsakt, Mundharmonika blasend den großen Sprung ins Unbekannte erwartend, den Eierstöcken entgegen, während unten im Maschinenraum schwitzende Männer an großen Kurbeln die Erektion aufrechtzuerhalten suchen und die Chefs in der Schaltzentrale schon die Sektflaschen öffnen.
Man liest viel vom Kampf der Dopingfahnder gegen das Verbotene, von ihrem tapferen Ringen, ihrem unerschrockenen frühmorgendlichen Klingeln an Sportlerheldenwohnungen, der Beschaffung von Athletenpipi. Aber wie wäre es, man würde solche Männer und Frauen einmal verkleinern wie Raquel Welch auf ihrer fantastischen Reise und sie injizieren in die Adern all der Ullrichs und Pechsteins und der Usain Bolts?
Noch ist fast alles, was einmal in Science-Fiction-Filmen zu sehen war, später Wirklichkeit geworden – warum nicht auch dies? Oder vielleicht wäre es erst einmal auch nur ein guter Film, Die Pechstein-Variante mit Matt Damon als schwer bewaffnetem Antidopingkämpfer, wie er verschlafen Posten schiebt im linken Oberschenkel der Pechstein, und wie dann eine Welle von gigantischen tiefroten Blutkörpern auf ihn zurollt …
Illustration: Dirk Schmidt