Wenn das hier fertig ist, fahre ich in den Biergarten. Erst Arbeit, dann Vergnügen. Erst Schreiben, dann Belohnung. Ich möchte das Problem der Staatsverschuldung erklären. Wichtig ist, dass alle verstehen: Das Wort, um das es geht, heißt prokrastinieren. Hieße es prokrustinieren, hätte es vielleicht mit dem Riesen Prokrustes zu tun, der in der griechischen Mythologie Wanderern auflauerte, um ihnen ein Bett anzubieten. Großen Wanderern bot er ein kleines Bett an und hackte ihnen die Füße ab, damit sie hineinpassten. Kleinen Wanderern offerierte er ein großes Bett und zog sie darauf in die Länge, bis sie Bettformat hatten.
Das Verb prokrastinieren kommt aus dem Lateinischen, pro heißt für, cras bedeutet morgen. Der Prokrastinierer verschiebt auf morgen, was er heute tun könnte. Um es anhand der Kolumne zu erklären: Einem Prokrustinierer wäre sie entweder zu kurz oder zu lang, er wäre also Romancier oder einer, der nur in Wendungen wie »voll krass« sich auszudrücken in der Lage ist. Ein Prokrastinierer hingegen schriebe sie nie oder lange nach Redaktionsschluss.
Ein Großprokrastinierer war Douglas Adams, Autor schöner Bücher wie Per Anhalter durch die Galaxis. Adams liebte Redaktionsschlüsse, vor allem »das zischende Geräusch, wenn sie vorbeifliegen«, und war bekannt dafür, dass er Bücher nur schrieb, wenn ein Lektor auf seiner Fußmatte kampierte. »Niemand liebt es zu schreiben, aber jeder liebt es, geschrieben zu haben«, das stammt von ihm.
Bruno, mein alter Freund, macht mich auf ein Buch aufmerksam, das 2007 erschien, das er aber jetzt erst las, weil er, wie er sagt, bisher immer was anderes zu tun gehabt habe. Das Buch heißt The Procrastination Equation, es ist unter dem Titel Der Zauderberg auf Deutsch erschienen und stammt von Piers Steel, Professor in Calgary. Steel hat sich damit befasst, dass Leute Dinge, die sie gleich erledigen sollten, vor sich her schieben, was man bisher mit Perfektionssucht erklärte: Prokrastinierer wollen eine Sache so gut machen, dass sie aus lauter Furcht vorm Scheitern gar nicht erst beginnen.
Piers Steel sagt: So ist es nicht. Vielmehr seien Aufschieber impulsive Menschen, süchtig nach schnellen Belohnungen. Statt sich ihrer Arbeit zu widmen, gehen sie Dingen nach, die schnellere Befriedigung versprechen, zum Beispiel Hausaufgaben durch ein Computerspiel verzögern, wenn nicht gar ersetzen. Man könne das, sagt Steel, in eine mathematische Formel gießen: U gleich E mal V geteilt durch I mal D. Steel sagt: »Alle Entscheidungen, etwas zu tun, beruhen auf der Erwartung (in meiner Gleichung E), dass wir eine Belohnung erhalten, und auf dem Wert V, den wir dieser Belohnung beimessen. Der Wert verringert sich, je nachdem, wie lange wir auf sie warten müssen (D) und wie impulsiv, also sensibel für Verzögerungen, wir sind (I). Daraus resultiert die Stärke der Motivation U, eine Aufgabe zu vollenden.«
Wie das aufs Staatsverschuldungsproblem passt! Denn die größten Prokrastinierer sind doch Politiker, die unsere Verschuldung nicht verringern, sondern die Schuldenrückzahlung vor sich her schieben.
Gehen wir die Formel durch: Wie entsteht U, die Motivation, Staatsschulden zu verringern? Die Belohnung wäre für den Politiker die Wiederwahl – aber ein Kanzler, der die Verschuldung verringern wollte, müsste Steuern erhöhen, Sozialleistungen streichen, weniger Straßen bauen, mithin: Er würde nicht wieder gewählt. E, die Erwartung der Belohnung, wäre sehr gering. V ist wiederum hoch, weil jeder Politiker gewählt werden möchte. Aber dieser Wert würde sich extrem verringern, weil der Politiker auf seine Belohnung lange warten müsste, ja, sie eben nie bekäme (D) – und weil er extrem sensibel für Verzögerungen ist (I). Denn auf dem Weg zur großen Belohnung lauern auf den Politiker Tausende kleiner Prämien. Was dem Schüler das Computerspiel, ist dem Politiker der Beifall im Bierzelt, den man nie für das Versprechen von Steuererhöhungen erhält – eine wunderbare Ablenkung. Die Folge: U ist sehr klein. Staatsschulden werden nie zurückgezahlt.
U gleich E mal V geteilt durch I mal D. Die Formel für den Untergang.
Nun ab in den Biergarten. Warum regnet es?
Illustration: Dirk Schmidt