Ich bin auf Reisen. In der Bahnhofsbuchhandlung habe ich einen Maigret gekauft, den ich schon kenne, aber das macht weiter nichts. Ich kenne alleMaigrets, aber der gnädige Gott des Vergessens löscht jeweils nach einigen Jahren mit liebevoller Handbewegung die Erinnerung an deren Handlung in meinem Hirn, und so kann ich jetzt Hier irrt Maigret lesen, als säße Georges Simenon noch irgendwo an seiner Schreibmaschine und hätte den Roman gerade veröffentlicht.
In einem herrschaftlichen Haus der Pariser Avenue Carnot wird also die Leiche einer jungen Frau entdeckt, Lulu, eine Prostituierte, auf deren Schlafrock sich ein großer dunkelroter Fleck befindet. Kopfschuss. Ich bin auf Seite 51, allmählich kehrt zu meinem Verdruss doch eine leichte Erinnerung an die Handlung zurück. Gleichzeitig habe ich die Berichte über den Prozess der Erben des Filmhändlers Leo Kirch gegen die Deutsche Bank gelesen, deren einstiger Vorstandssprecher Rolf Breuer mit Äußerungen, die Kreditwürdigkeit Kirchs betreffend, dessen Pleite herbeigeführt haben soll. Kirch habe damals »Der Rolf hat mich erschossen« (wahlweise auch »Erschossen hat mich der Rolf«) gesagt, so jedenfalls stand es jetzt wieder in den Blättern.
Der Rolf hat mich erschossen.
Ein großer, unvergesslicher Satz unserer Wirtschaftsgeschichte. Er gewinnt sein Gewicht auch aus diesem »Rolf«, ein Name, der leider selten geworden ist, man muss sich dazu nur auf den Neugeborenen-Stationen des Landes umsehen, da heißt keiner mehr »Rolf«, warum? Keine Ahnung. »Rolf« war bis in die Fünfzigerjahre hinein extrem beliebt. Man hieß mit Wonne »Rolf«, wurde man nicht gerade »Manfred« getauft, auch ein Name, der damals große Zeiten erlebte. Dann war das vorbei, und der letzte Rolf, an den ich mich erinnern kann, war die seltsame gezeichnete Hand-Figur, die 1993 mit dem Slogan »Fünf ist Trümpf« bei der Einführung neuer Postleitzahlen mitwirkte, Sprecher übrigens Rolf Zacher, geboren 1941.
Wäre es denkbar, dass einer sagt: »Der Vincent-Alexander hat mich erschossen«? Grotesk. Die Worte gewinnen eine gewisse literarische, ja, shakespearesche Wucht daraus, dass sich das »o« von »Rolf« in »erschossen« wiederholt. »Der Rolf hat mich erdolcht« wäre fast noch besser, auch ginge »Der Rolf hat mich erdrosselt«. Aber probieren Sie es mal mit »Der Rolf hat mich vergiftet« oder »Der Rolf hat mich erstickt«! Auch »Der Ralf hat mich erschossen« klingt nicht, dieses kleine »o« ist extrem wichtig, wir lernen hier viel über den Klang von Sätzen und warum sie sich einprägen.
Dass ein Teil des Täternamens sich im Tatwort wiederholt – großartig!
»Der Erwin hat mich erwürgt«, das wäre auch nicht schlecht gewesen. Aber viel besser: »Der Hagen hat mich erschlagen.« Ganz groß: »Der Jochen hat mich erstochen.«
Aber so war es nun mal nicht.
Was noch interessant ist: dass die Rolf-Anklage gleichzeitig groß ist und klein. Sie beschreibt einerseits das Ruchlose einer Tat, andererseits ist es ein Satz, mit dem ein kleiner Bub sich rotzüberzogenen Gesichts bei seiner Mutter beschwert, wenn er vom Indianerspiel nach Haus kommt – das gibt uns ein Gefühl dafür, wie es unter den mächtigen und reichen Jungs zugeht: auch nicht anders als bei Hempels auf dem Spielplatz. Bei vielen Männern werden im Laufe ihres Lebens nur die Krawatten edler und die Weine teurer. Sonst ändert sich wenig.
Bemerkenswert schließlich, dass in unserem Fall nicht die Leiche am Tatort ein letztes Mal mit herausgekrächztem »Der Rolf hat mich erschossen« den Kopf hob, worauf der Kommissar verzweifelt rief: »Und der Nachname? Der Nachname!« Sondern das Opfer erschien quasi mit dem klar und deutlich prononcierten Satz vor Gericht. Wenn alle Opfer von Mord und Totschlag zu diesem persönlichen Einsatz bereit wären, täte sich die Polizei leichter.
Allerdings gäbe es dann auch keine Maigret-Romane. Ich lese weiter. Schoss Gouin, der Chirurg? Oder Pierrot, der Musiker? Ein »o« haben sie beide, aber bei Gouin klingt es nicht, nur bei Pierrot, aha, aha …
Illustration: Dirk Schmidt