Auf Lesereise (II): Neulich unterhielt ich mich mit einem Freund, dem Schauspieler F., der auch gelegentlich öffentlich aus Texten liest, über die Frage, wie wir reagieren würden, wenn im Publikum während einer Lesung jemand einschliefe.Er wisse es nicht, sagte F., er glaube, er würde nur etwas unternehmen, wenn die Person schnarchte, also die Lesung störte – dann würde er etwas tun. Aber was?»Ich bin es gewöhnt, dass Leute bei Lesungen einschlafen«, sagte ich. »Wenn ich daheim bin, lese ich Luis vor und normalerweise schläft er ein. Es ist geradezu Ziel meiner Lesung, ihn zum Einschlafen zu bringen. Das Einzige, was mich wirklich stört, ist, wenn er anfängt, in Comics zu blättern, während ich lese.«F. sagte, der berühmte O. E. Hasse habe vor langer Zeit mal in einem kleinen Münchner Theater eine Lesung gehalten und dabei aus irgendeinem Grunde einen Geigenbogen als Requisite dabeigehabt. Dann sei in der ersten Reihe jemand eingenickt und habe leise vor sich hin geschnorchelt, worauf Hasse ihm mit dem Geigenbogen eins über den Schädel gebraten habe. Es habe sogar einen Prozess deswegen gegeben – aber wie das Urteil lautete? Vergessen.Vor Jahren hatte ich mal eine kleine Rolle als lesender Autor in Polizeiruf 110. Meine Aufgabe war, in einem Grünwalder Salon etwa zwanzig gut gekleideten, soignierten Herrschaften einen Ausschnitt aus einem lustigen Text vorzutragen. Die Leute sollten sich darüber sehr amüsieren. So sah es das Drehbuch vor.Das Problem war, dass ich nur diesen Ausschnitt las, der, für sich genommen, überhaupt nicht lustig war – er war es nur im Zusammenhang des gesamten Textes, den die Schauspieler aber nicht kannten.Der Regisseur ließ mich, während ich den Textausschnitt wieder und wieder und wieder las, aus allen nur denkbaren Perspektiven filmen, etwa fünfzig Mal. Dann begann er, das Publikum filmen zu lassen, während es meiner Darbietung lauschte. Die Leute machten beim Zuhören Mienen, als trüge ich etwas von Schopenhauer vor, und schon nach wenigen Augenblicken herrschte der Regisseur sie an, der Text sei lustig, sehr lustig sogar, sie sollten gefälligst lachen.»Was soll daran lustig sein?!«, rief einer der Statisten.»Keine Ahnung«, sagte der Regisseur. »Steht im Drehbuch.«»Und wenn ich den Text einmal ganz lese?«, sagte ich leise. »Damit Sie den Zusammenhang…?«»Meinetwegen«, sagte der Regisseur und schaute auf die Uhr.Ich las. Die Leute lachten, aber sie wurden dabei nicht gefilmt. Als man die Kamera wieder anknipste, musste ich meine zwei, drei Sätze weitere fünfzig Mal lesen. Die ersten zehn Mal lachten die Leute echt, dann lachten sie unecht, dann verzweifelt, dann wie von Hass erfüllt. Die letzten zehn Male wurden sie von hinten gefilmt, während ich vor ihnen stand und las. Sie bewegten nur noch ihre Schultern auf und ab wie Lachende und ich blickte in Gesichter, in die mit großen Buchstaben eine einzige Frage gemalt war: »WANN GIBT ES MIT-TAGESSEN?« Und vor mir, direkt vor mir, saß ein Mann, dessen Augen geschlossen waren, während seine Schultern auf- und abzuckten – er schlief, beinahe jedenfalls, nur seine Schultern waren noch wach.Es war in jedem Fall ein unglaublich anstrengender Tag, an dessen Ende ich sehr stolz auf meine Disziplin und schauspielerische Professionalität war. Im Grunde war ich so weit, den Schriftstellerberuf aufzugeben und mich an der Falckenberg-Schule zu bewerben. Tagelang erzählte ich zu Hause von meinen Erlebnissen und den Anstrengungen der Arbeit »am Set«, wie ich mich ausdrückte.Dann kam der Abend, an dem der »Polizeiruf« ausgestrahlt wurde. »Achtung!«, sagte ich zu Paola. »Heute wird ferngesehen.« Pünktlich saß ich vor dem Schirm, denn meine Szenen gehörten zu den ersten des Films.»Ich hole mir nur noch schnell ein Bier!«, sagte Paola und ging in die Küche.»Aber…!«, rief ich. Doch sie war schon draußen, kehrte nach fünf Minuten zurück und machte es sich auf dem Sofa bequem. »Wie gespannt ich bin!«, sagte sie. »Wie schön, mit einem Serienstar verheiratet zu sein! Ist das der Film?«»Es ist schon vorbei«, sagte ich.»Was?«»Mein Auftritt ist vorbei.«Sie lachte kurz und schrill. Ich dachte einen Moment nach, wie es wäre, morgen etwas in der Zeitung zu lesen wie: POLIZEIRUF-STAR KILLTE SEINE FRAU VOR DEM FERNSEHER.Aber dann war ich einfach nur beleidigt.