Das Beste aus meinem Leben

Leserpost (III): Zum beliebten Thema »Der Verhörer« und dem nicht minder schönen Unterthema »Der Verhörer in der Literatur« erreicht mich eine Zuschrift von Herrn M. aus Hamburg. Der erzählt den Witz von den dichtungsbegeisterten jungen Leuten, die sich abends versammeln; einer trägt Goethes Erlkönig vor, am Schluss die Verse:»Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind,Er hält in den Armen das ächzende Kind,Erreicht den Hof mit Mühe und Not,In seinen Armen das Kind war tot.«Ergriffenes Schweigen. Dann fasst sich ein junger Engländer und sagt: »Ja, das ist schlimm für den Vater – das arme Kind. Aber ganz so furchtbar ist’s Gott sei Dank auch wieder nicht: Er hat ja noch fünfzehn.« Die Runde nimmt das betreten zur Kenntnis, leicht irritiert sieht man den Engländer an, der repetiert:»Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind,Und hält in den Armen das sechzehnte Kind.«Nun ist das für den Verhörspezialisten nichts Neues, erst kürzlich hatte sich Leser J. aus Neumünster mit dem gleichen Witz gemeldet, nur war es »das achtzehnte Kind«. Übrigens lassen sich beide Varianten in einem Witz zusammenfügen, der so geht:Vater: »Was machst du da für Hausaufgaben, Sohn? Ah, du lernst den Erlkönig. Den kenne ich aus meiner eigenen Schulzeit noch ganz auswendig: Den Vater grauset’s, er reitet geschwind, er hält in den Armen das sechzehnte Kind…«Sohn: »Vater, es heißt ›das achtzehnte Kind‹.«Vater: »Na, ihr habt heute eben eine spätere Ausgabe.«Aber eigentlich geht es in diesem Beispiel nicht um Verhörer in der Literatur, sondern um Verhörer, die mit Literatur zu tun haben. Herr K. aus Hamburg indes schickt ein reizendes Beispiel aus der Literatur selbst, einen Aufsatz von Thomas Vormbaum aus dem aktuellen Thomas-Mann-Jahrbuch. Es geht darin um die Buddenbrooks und jene Stelle, an der die Konsulin nach dem Tod ihres Mannes allerhand Prediger einlädt, deren einer die Hausgemeinde zu einer »feierlichen, glaubensfesten und innigen Melodie« folgenden Text singen lässt:»Ich bin ein rechtes Rabenaas,Ein wahrer Sündenkrüppel,Der seine Sünden in sich fraß,Als wie der Rost den Zwippel.Oh Herr, so nimm mich Hund beim Ohr,Wirf mir den Gnadenknochen vorUnd nimm mich SündenlümmelIn deinen Gnadenhimmel!«Germanisten haben sich lange mit der Frage beschäftigt, ob das ein echtes Kirchenlied sei oder ob Mann es selbst verfasst habe. Vormbaum aber wirft zu Recht die Frage auf, was eigentlich ein »Zwippel« sei und inwiefern Rost ihn fressen könne. Nachdem das selbst bei einem Abendessen unter Literaturwissenschaftlern nicht zu klären war, setzte sich ein Mit-arbeiter Vormbaums an den PC und fand via Google zu einer einzigen wesentlichen Fundstelle, einem Aufsatz von Friedrich Engels nämlich.Der erwähnt einen Mitte des 19. Jahrhunderts populären Autor namens Wilhelm Wolff, welcher wegen antiklerikaler Schriften von der Zensur verfolgt wurde. Wolff dichtete in satirischer Absicht Kirchenlieder nach oder neu, darunter auch dieses. Es lautet indes bei Wolff:»Ich bin ein rechtes Rabenaas,Ein wahrer Sündenkrüppel,Der seine Sünden in sich fraß,Als wie der Russ’ die Zwippel.«Engels schrieb dazu, das Lied sei »wie ein Lauffeuer« durchs Land gegangen, »das schallende Gelächter der Gottlosen, die Entrüstung der ›Stillen im Lande‹ hervorrufend«. Vormbaum ergänzt, so einfach sei also die Antwort auf die ›Zwippel‹-Frage, es gehe um die vermeintliche Vorliebe der Russen für Zwiebeln. Die Frage ist nur, woher Mann eigentlich seine Textversion hat. »Ob auch er sie in einem alten Gesangbuch gefunden hat (warum dann aber die unverständliche Fassung?), ob er sie falsch aus dem Gedächtnis zitiert hat, ob er sie bewusst verfremdet hat (warum aber?) – jedenfalls ist der Text in der Wolffschen Fassung schlüssig.«Und in der Mannschen eben nicht. Die Antwort ist wahrscheinlich sehr einfach: Mann hat sich verhört. Nicht so einfach ist die Beantwortung der Frage, wieso anscheinend bisher nie jemand auf den Gedanken gekommen ist, den offenkundigen Unsinn des Mannschen Textes zu klären. Selbst in der neuen Thomas-Mann-Gesamtausgabe, schreibt Vormbaum, nenne der Kommentarband zwar Wolff als Urheber des Liedes. Es finde auch Erwähnung, dass es »die Zwibbel« statt »der Zwippel« heißen könne. Dass es aber »Russ’« statt »Rost« heißen müsste.