Das Beste aus meinem Leben

Kürzlich nahm mir ein Mercedes-Fahrer auf unverschämte Weise die Vorfahrt und nannte mich, aus dem offenen Seitenfenster heraus, einen »Deppen«. Der Mann ist jetzt fürs Leben ruiniert. Wie’s kam? Der Reihe nach. Vor einer ganzen Weile las ich Luis die Geschichte vom kleinen Muck vor, das Märchen vom Zwerg mit dem großen dicken Kopf. Der wurde als Bub nach dem Tod seines Vaters von bösen Verwandten aus dem Haus gejagt und landete zunächst in einer anderen Stadt bei der alten Frau Ahavzi, deren Katzen er den Pelz kämmen und mit köstlichen Salben einreiben musste.»Mit köstlichen Salben?!«, rief Luis. »Sollen wir Kurti auch mal mit köstlichen Salben eincremen?«»Ein Meerschwein ist keine Katze«, sagte ich. »Und was heißt hier wir? Das muss doch wieder ich machen.«»Weiterlesen!«, sagte Luis.Der Muck wurde dann von Frau Ahavzi verjagt, weil die Katzen während deren Abwesenheit das Mobiliar zerstört hatten, Frau Ahavzi aber nicht ihre Katzen als Schuldige sah, sondern den Muck. Aber bevor er floh, konnte er ein Paar Siebenmeilen-Pantoffeln und ein Stöcklein mitgehen lassen, das verborgene Schätze anzuzeigen in der Lage war. So ausgerüstet landete er am Hofe des Königs, dessen wichtigster Schnellläufer er dank der Pantoffeln wurde. Außerdem entdeckte er in einer Ecke des königlichen Parks einen Schatz, mit dessen Goldstücken er intrigante Hofschranzen gewogen zu machen versuchte – leider nur mit dem Ergebnis noch gesteigerter Intriganz. Die Schranzen schafften es, dass der König ihn verbannte. So enttäuscht, landete Muck nach langer Wanderung in einem Wald und dort unter einem Feigenbaum, dessen Früchte er aß – worauf er entdecken musste, dass ihm Eselsohren wuchsen. Sie verschwanden wieder, als er Feigen eines anderen Baumes verzehrt hatte. Der kleine Muck nahm nun Feigen des ers-ten Baumes und verkaufte sie, als Obsthändler verkleidet, an den Hofkoch des Königs, worauf dem gesamten Hofstaat Eselsohren wuchsen. Nun tauchte Muck erneut vor dem Palast auf, diesmal als Arzt verkleidet und mit Feigen des zweiten Baumes. Ein Prinz probierte das Obst – weg waren die Eselsohren. Der König bot dem vermeintlichen Arzt all seinen Besitz an, wenn er auch ihn von den Eselsohren befreie. Muck aber riss die Maske vom Gesicht und rief: »Treuloser König, der du treue Dienste mit Undank lohnst, nimm als wohlverdiente Strafe die Missgestalt, die du trägst.« Weg war er auf den Schnellpantoffeln.Ich las das Luis vor. Er schlief ein. Ich dachte: Warum schreibt heute niemand mehr Geschichten, in denen Schnellpantoffeln, Schatzsucherstäbe und verzauberte Feigenbäume vorkommen? Warum gibt es das alles nicht mehr? Dann schlief ich auch ein. Nun zum Mercedes-Fahrer. Ich bin ein leicht zu kränkender Mensch. Deshalb folgte ich dem Mercedes, bis er in ein Parkhaus fuhr. Als der Fahrer das Haus zu Fuß verließ, stand am Ausgang ein Losverkäufer. »Kaufen Sie! Gewinnen Sie!«, rief er. Der Mann kaufte ein Los, öffnete es, las »Leider nicht« und machte ein sehr enttäuschtes Gesicht. Dieses Gesicht macht er immer noch und wird es für den Rest des Lebens machen. Es bleibt ihm. Der Losverkäufer war ich, verkleidet. Ich war am Tag, nachdem ich Luis die Muck-Geschichte vorgelesen hatte, durch den Englischen Garten gegangen und hatte unter einem Baum einen Karton mit Lotterielosen gefunden. Ich staunte: Hatte den ein Verkäufer verloren? Ich öffnete ein Los: »Leider nicht«, stand da. Ich öffnete ein zweites: »Leider nicht«. Ein drittes: »Leider nicht«. Das vierte ließ ich ungeöffnet. Ich betrachtete mich in der spiegelnden Wasserfläche des Eisbachs und sah ein frust-riertes Leidernicht-Gesicht. Ich wollte lachen, aber das Gesicht blieb, wie es war. Natürlich verstand ich, durch das Muck-Märchen geschult, dass ich Zauberlose gefunden hatte. Natürlich ging ich sofort zu einem benachbarten Baum und fand dort: einen zweiten Karton. Mit Losen. Ich riss eines auf: »Sie haben gewonnen.« Noch eines: gewonnen. Ich öffnete alle. Alle hatten gewonnen. Lachend löste ich meine Gewinne ein. Ich bin nun sehr reich und muss nie mehr arbeiten. Vor allem aber habe ich noch die anderen Lose, und wenn Sie irgendwo in München einen Menschen mit sehr enttäuschtem und verbittertem Gesicht sehen und sich seine Miene nie, aber auch gar nie ändert, dann denken Sie daran: Wahrscheinlich war er einmal nicht nett zu mir. Und am nächsten Tag stand da ein Losverkäufer...