Zur Selbstfindung des jungen Menschen gehört die Möglichkeit, probeweise ein anderer sein zu können. Ich zum Beispiel träumte als Kind oft, Wuttich zu sein, denn Wuttich hieß einer der besten Goalgetter des Fußballvereins meiner Heimatstadt. Es gab Tage, an denen alles Wuttichhafte mir das einzig Erstrebenswerte im Leben zu sein schien.Das waren damals Zeiten, in denen nicht jede Familie einen Fernseher besaß. Man sah also keineswegs dauernd Fußball, ging selten ins Stadion, auch verbrachte ich nicht allzu viel Zeit mit dem Sportteil der Tageszeitung. Sodass ich also kaum wusste, wie Wuttich eigentlich aussah – sehen wir vom Foto im Fußballbilder-Album ab. Im Grunde war das Einzige, was ich von Wuttich wusste, sein Nachname, der einem Stürmer, wie ich heute noch finde, sehr entsprach. Denn man sieht förmlich vor sich, wie der Mann in die Flanken hineinwutticht.Und obwohl ich also wenig von Wuttichs Äußerem wusste, versuchte ich doch, wenn wir auf dem Bolzplatz kickten, mit allen Fasern meines Wesens, Wuttich zu sein. Mit dem Ruf »Ich bin Wuttich!« betrat ich den Rasen, und es gab im Verlauf des Spielens Momente, in denen ich mich wirklich wie Wuttich fühlte, und da Kinder sich sehr tief in ihre Vorstellungen versenken können, war ich für Augenblicke auch wirklich Wuttich, ohne dass der echte Wuttich wohl je gemerkt hätte, dass es Sekunden gab, in denen er sein Wuttichsein mit einem kleinen Buben teilen musste. (Oder war es vielleicht doch so, dass ihn in jenen Minuten ein seltsames, kaum erklärbares Empfinden beschlich? Ich weiß es nicht.)Jedenfalls komme ich auf die Sache zu sprechen, weil ich kürzlich meine alte Freundin C. traf, die zwei Söhne im besten Luis-Alter hat – und beide Söhne sind tief empfindende Fußballfreunde, so wie ich mal einer war.Nun kam es aber eines Tages so, dass meine Freundin mit einem der Söhne im Auto zum Fußballplatz fuhr, um den anderen dort abzuholen. Und der Sohn, der im Auto saß, hatte gerade – ich weiß nicht mehr, wo und warum – ein Schweinsteiger-Shirt geschenkt bekommen, welches er nun auf seinem kleinen Leibe trug und das ihm zu einem solchen Hochgefühl des Schweinsteiger-Seins verhalf, dass er seinem abgekämpft vom Bolzplatz kommenden und das Auto besteigenden Bruder in euphorischer Tonlage entgegenrief: »Ich bin Schweinsteiger!«Da war er nun freilich an den Richtigen gekommen. Denn auch der Bruder, obgleich er nur ein normales Sporthemd trug, fühlte sich als Schweinsteiger, ja, er hatte das komplette hinter ihm liegende Bolzplatzmatch in jener Eigenschaft als Schweinsteiger bestritten, die nun sein Bruder für sich beanspruchte. Sofort brach auf dem Rücksitz des Autos meiner Freundin eine so gewaltige Schlägerei los, dass sie kaum zu schlichten war.Dies rührt an Grundfragen menschlicher Existenz. Können zwei Personen gleichzeitig Schweinsteiger sein? Im Prinzip ja, würde Radio Eriwan antworten, aber sie dürfen sich nicht begegnen.Wenn aber die beiden Schweinsteigers doch aufeinandertreffen, wie ist dann eine solche, an manifeste Persönlichkeitsspaltung grenzende Problematik zu lösen? Wie soll man schlichten? Und was bedeutet es für die menschliche Entwicklung von Schweinsteiger selbst: Je besser er Fußball spielt, je berühmter er wird, desto mehr Menschen schlüpfen in Schweinsteiger-Hemden und rufen, wo immer sie gerade sind: »Ich bin Schweinsteiger!« Je einzigartiger Schweinsteiger zu sein scheint, desto mehr Schweinsteigers gibt es, eine gegenläufige Entwicklung, die wir das Schweinsteiger-Paradox nennen wollen.Ich erinnere mich übrigens, dass mir eines Tages in einem Park meiner Heimatstadt das Wuttichsein von einem brutalen Kraftkerl streitig gemacht wurde, der mich mit der Faust einfach niederstreckte, als ich Wuttich zu sein behauptete. Er sei Wuttich!, rief er, und fortan war ich nie mehr Wuttich, aus schierer Angst nämlich, diesem entsetzlichen Menschen noch einmal zu begegnen. Ich beanspruchte keinen anderen Namen außer meinem eigenen, hörte nach einer Weile auf, Fußball zu spielen, und wandte mich anderen Sportarten zu, die ich unter meinem Taufnamen bestreiten konnte.Man nennt das alles, wie gesagt, Selbstfindung. Ein schwieriger Prozess, wie ich zu zeigen bemüht war.
Illustration: Dirk Schmidt