Das Beste aus meinem Leben

Seit einer Weile besuche ich jeden Morgen ein Fitnesscenter, steige auf einen Rad-Hometrainer und, ja, was mache ich…? Rad fahren? Nein, ich fahre ja nicht. Radln? Bitte, wo ist hier ein Rad, das Gerät ist radlos? Strampeln? Das Wort ist eines Mannes unwürdig. Trainieren? Schon, aber das ist zu ungenau, trainieren würde ich auch beim Joggen, Rudern oder eben Radfahren, Tätigkeiten, für die es genaue Extra-Bezeichnungen gibt, während für das, was ich tue, ein Spezialwort nicht zu existieren scheint, nun ja, das ist nicht schön, aber es scheint die Wahrheit zu sein.Ich mache also auf dem Rad-Hometrainer rum. Stelle den kleinen Computer vor mir auf eine halbe Stunde, dann geht es los. Meine Leistung wird in Kjoule gemessen, das ist eine Einheit, die mir wenig bedeutet, Kilometer wären mir lieber, aber sie werden auf dem Display nicht angezeigt. Natürlich weiß ich, dass das Kjoule nach James Prescott Joule benannt ist, einem großen Physiker, dessen Biografie ich entnehme, er sei Sohn eines Brauereibesitzers gewesen, habe ein angeborenes Rückenleiden gehabt, seine Frau sei früh gestorben, schon Mitte fünfzig hätten ihn gesundheitliche Probleme geplagt, unter anderem dauerndes Nasenbluten, im Alter seien finanzielle Probleme dazugekommen. Noch auf dem Totenbett sei er der Meinung gewesen, nichts Großes geleistet zu haben.Ich betrachte dies als Verpflichtung.Übrigens fällt mir dabei ein, wie Luis, mein Sohn, neulich nach seinem Alter gefragt wurde, und er antwortete: »Ich bin zehn und werde bald elf.« In solchem Satz steckt die Kraft und Zuversicht der Jugend. Was antworte ich? Ich bin 50 und war einmal 18? Ich bin 50 und leiste 900 Kjoule in einer halben Stunde?Manchmal sitzt auf dem Hometrainer neben mir ein früh pensionierter Informatiker, mit dem ich mich keuchend über Douglas Adams’ Romane unterhalte. Wenn er auf seinen Apparat steigt, sagt er immer: »Da kämpfen wir nun wieder…« Er trägt einen Gurt zur Messung der Herzfrequenz um die Brust, und da ich einen solchen Gurt nicht trage, erscheint seine Herzfrequenz auch auf meinem Display, per Funk dorthin übertragen, eine irritierende Information, fast zu persönlich, doch nicht so intim wie Blutzuckerwerte oder Harnsäurespiegel, über die ich nichts erfahre.Wir treten und treten. Immer versuche ich, schneller zu sein als mein Nachbar, aber es nützt nichts, er bleibt hartnäckig neben mir. Mir fällt ein, wie ich als Kind mit dem Fahrrad von der Schule heimfuhr, so schnell es ging, wie ich Hausfrauen und Schornsteinfeger und andere Schüler überholte und dabei mit der inneren Stimme eines Radioreporters meine eigene Leistung kommentierte, Wolfshohl und Altig, ja Merckx, Poulidor, Anquetil hinter mir lassend, sie degradierend, deklassierend, »wer hätte das gedacht!«, rief es in mir, »dieser junge Hacke, nun am Hinterrad von Merckx, und was tut er, der Kerl, in seinem Wagemut, er sprintet los, und da ist er vorbei, vorbeiii …«So war das, und daheim gab es zu Mittag »Leber Berliner Art«, wenn es ein guter Tag war, mit Apfelmus, mir kommen Tränen, wenn ich daran denke, es war schön.Heute versuche ich, wie gesagt, nach einer halben Stunde 900 kJoule geleistet zu haben, mal schaffe ich es, mal nicht. Während ich arbeite, blicke ich aus einem Fenster auf das gegenüberliegende Haus, in dem sich ein Geschäft befindet, das gerade ein seltsames Firmenjubiläum feiert, »24 Jahre«, steht da, »es geht weiter«, ja, sie sind jetzt 24 und werden 25, aber den ganzen Satz kann ich durch das Fenster nicht lesen, ich lese nur »weiter«, ist es nicht seltsam?, »weiter«, wie ein Befehl, eine Aufforderung, ein Zufall, es könnte dort auch eine Plakatwerbung sich befinden mit dem Satz: »Ich bin doch nicht blöd«, und ich läse nur »blöd«, doch ich lese »weiter« und mache »weiter«, Kjoule auf Kjoule häufend, was werde ich tun, wenn dieses Firmenjubiläum vorbei ist?Jeden Morgen geht eine Frau am Fenster vorbei. Immer vor dem Fenster zündet sie sich eine Zigarette an. Ich stelle mir vor, ich würde noch den Rest meines Lebens hier vor mich hin treten, jeden Morgen eine halbe Stunde, jeden Morgen für Sekunden diese Frau sehend, wie sie sich die Zigarette anzündet, ihre Gier dabei, manchmal ihr Zögern, eines Tages ihr Husten, und wie sie einige Wochen nicht raucht, dann wieder, immer nur diesen Lebensausschnitt, und eines Tages kommt sie nicht …Und sie hätte mich in all dieser Zeit nie gesehen, immer nur ich sie, während ich aus gesunden Lungen einem hohen Alter entgegenkeuche, »weiter«, immer »weiter« …

Illustration: Dirk Schmidt