Das Beste aus meinem Leben

Vor einer Weile las ich im Magazin hier ein Interview mit Woody Allen, in dem er erzählte, wie seltsam seine Kinder seien: Sie schleppten die ganze Zeit irgendwelche Gegenstände von hier nach da, arrangierten Kaffeekränzchen für die Puppen, dann wieder würden sie auf einmal ganz aufgeregt oder ärgerlich oder unruhig – wegen nichts! Es war, als redete jemand, dem Kinder ein vollständiges Rätsel sind, eigentlich Wesen von einer komplett anderen Art.Das ist mal eine interessante Einstellung, dachte ich, interessanter als dieses Immerallesverstehen.

Es gibt tatsächlich Augenblicke, in denen einem das eigene Kind ein Rätsel ist. In denen es etwas tut oder sagt, was man nicht versteht und nie verstehen wird.
Wir waren auf dem Land gewesen und fuhren auf der Autobahn wieder Richtung München. Es war dunkel, und es war die Zeit, in der es gemütlich ist in einem Auto, bisschen Musik, bisschen reden, bisschen schweigen …

Wir kamen München näher und näher, Weyarn, Holzkirchen, Sauerlach, Kreuz München-Süd, und bei Taufkirchen sagte Paola: »Jetzt sind wir bald in München.«
»Ank«, sagte Sophie.
Ank heißt Angst.
»Angst? Wieso hast du Angst, Sophiechen?«
»Ank.«
»Aber warum denn?«
»Ank. München. Hab Ank!«

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Ihre Stimme hob sich und wurde lauter.
Neubiberg, gleich kam Neubiberg.
»Aber in München sind wir doch daheim. Da ist unsere Wohnung, dein Zimmer, dein Bettchen, dein …«
»Aaaank! Müünchen! Hab Aaaank!« Sie schrie jetzt. Heulte. Keinem Gespräch zugänglich.
Neuperlach.
Paola schnallte sich ab, kletterte nach hinten, auf den Platz zwischen Luis und Sophie, nahm Sophie aus dem Sitz, auf den Arm, all die polizeilich verbotenen Sachen.

Wovor kann sie in München Angst haben?, dachte ich. Vor etwas, was dort kürzlich geschehen ist? Vor dem auf die Nase bindbaren Elefantenrüssel aus Plastik, mit dem Luis sie neulich erschreckt hat? Vor der alten Gummigenscher-Maske, mit der er sie einen Tag später erschreckt hat? Vor dem Hofbräuhaus, in dem wir aber noch nie mit ihr waren? Vor dem Fernsehsender ProSieben? Vor dem Schnauzbart des Oberbürgermeisters? Vor dem dunklen Brillengestell seines Gegenkandidaten? Und wenn schon unser liebes München für sie ein Horror ist, was müsste dann erst das finstere Berlin ihr bedeuten? Bei der Anfahrt auf Berlin bekomme selbst ich Weinkrämpfe.

Ein Rätsel. Und es blieb eines. Sie kann es ja nicht erklären. Sie wird es auch nie erklären können. Denn wenn sie eines Tages gut genug sprechen wird, um es erklären zu können, wird sie den Vorfall vergessen haben.

Ramersdorf. Rosenheimer Straße.
Sie hatte sich beruhigt. Paola hatte sie beruhigt.
»Keine Panik«, sagte Sophie plötzlich, obwohl niemand den Ausdruck bis jetzt benutzt hatte. »Keine Panik.«
»Nein, keine Panik, Sophie«, sagte ich. »Wir sind in München, aber keine Panik.«
»Müüüünchen …«, wimmerte sie wieder.
»Vermeide das Wort!«, zischte Paola.

Haidhausen. Die Au. Paola flüsterte mit Sophie, an der Mariahilfkirche zeigte sie auf den leeren Platz und sagte:
»Schau, Sophie, da ist immer die Auer Dult.«
»Jessas, naaa!«, sagte Sophie.
Wir lachten.
»Ja, da sind immer die Buden und Stände und die Karussells und das kleine Riesenrad.«
»Gott sei Dank!«, sagte Sophie.
Wir lachten wieder.
»Woher hat sie das?«, fragte ich.
»Keine Ahnung«, sagte Paola.

Illustration: Dirk Schmidt