»Papa, wie alt bist du?«, fragt die kleine Sophie.»51«, murmle ich.
»Oh, Sssseiße«, sagt sie.
Es ist aber auch wirklich… Immer tut einem was weh, die Schulter, ein Arm, das Knie, ein Zahn. Ich meine, auch früher tat mir immer was weh, ich trieb zu viel Sport, ich arbeitete zu lange, manchmal trank ich zu viel – deshalb. Aber früher tat etwas einfach nur weh. Heute denke ich, es tut weh, weil ich schon 51 bin. Das ist ein Unterschied.
Vor ein paar Tagen habe ich ausgerechnet, dass ich schon neun- mal umgezogen bin. Ich habe dann 51 durch drei geteilt und festgestellt, dass ich in den ersten 17 Jahren, dem ersten Drittel, einmal umzog, im zweiten Drittel sechsmal, im gerade vergangenen Drittel zweimal. Das mittlere Drittel, von 18 bis 34 – das waren die bewegten Jahre.
Als ich das erste Mal umzog, war ich ein Jahr alt. Wir hatten bei den Großeltern gewohnt, in zwei Zimmern, dann zogen wir in unser eigenes Haus. Zu meinen Großeltern, zwei Kilometer entfernt, fuhr ich mit dem Ballonroller nur noch, um sonntags Kater Mikesch im Fernsehen zu sehen oder um mit dem Nachbarsbuben, dem Sohn des Feuerwehrhauptmanns, und dessen hundertundfünfzig Wiking-Feuerwehrautos zu spielen oder um meiner Großmutter ein Zusatz-Taschengeld abzuschwatzen oder um im Dorfgraben das Wasser aufzustauen oder um mich von meinen Feinden aus der Hohenstaufenstraße verprügeln zu lassen – also eigentlich jeden Tag fuhr ich dorthin. Meine Großeltern wohnten im Dorf und wir wohnten nun, zwei Kilometer weiter, am Rand der Stadt B. Im Dorf gefiel es mir besser als am Stadtrand. Das geht mir heute noch so: Stadtränder mag ich nicht, sie haben etwas Verwechsel- und Austauschbares, ich wohne lieber mitten in der Stadt. Oder gleich im Dorf. Da weiß man, was man hat.
Vor einer Weile war ich mal wieder in der Straße, in der ich aufgewachsen bin. In dem Haus, in das wir damals gezogen waren, wohnen seit zwanzig Jahren Menschen, die ich nicht kenne. Meine Eltern hatten das Haus verkauft, als wir Kinder groß waren; sie dachten praktisch und zogen in eine Wohnung um, vielleicht einer der Gründe, warum ich praktisches Denken nicht mag. Es hat etwas Kränkendes, wenn die Eltern das Haus, in dem sie einen großgezogen haben, nicht mehr bewohnen wollen.
Ich stand wieder vor diesem Haus, beziehungsweise: Ich betrachtete es vom Auto aus. (Denn ich wollte nicht, dass jemand aus dem Haus käme und mich fragte, was ich hier tue, und mich womöglich ins Haus bäte, um mir alles zu zeigen, nein, das wollte ich nicht.) Und was soll ich sagen? Das Haus war geschrumpft. Es war, als ich dort lebte, ein großes Haus gewesen, mit einem übermäßig großen Wohnzimmer, in dem jede Menge Leute Platz hatten. An der Außenwand des Hauses hatte ich stundenlang allein Fußball oder Tennis gespielt, indem ich einen Fuß- oder Tennisball gegen die Wand trat oder schlug – heute undenkbar, die Wand ist viel zu klein. Vor der einen Seite des Hauses war eine Straße, auf der fuhren Autos, die ich, oben auf der Fensterbank meines Zimmers sitzend, zählte und nach Automarken klassifizierte, eine auf den ersten Blick unglaublich langweilige, doch für mich sehr beruhigende Tätigkeit.Und was soll ich sagen? Auch diese Straße war geschrumpft. Sie ist heute viel, viel kleiner als damals.
Natürlich liege das daran, dass ich damals klein gewesen und nun groß sei, sagen Leute, die praktisch denken. Damals seien mir eben alle Dinge größer vorgekommen als heute. Aber, wie gesagt, praktisches Denken mag ich nicht. Ich denke, wir haben es mit dem seltsamen, seltenen und möglicherweise nur mich persönlich betreffenden Phänomen der Schrumpfhäuser und Schrumpfstraßen zu tun.
Übrigens habe ich auch ausgerechnet, dass, wenn ich einmal neunzig werde/würde und bis dahin nicht mehr umzöge, dass ich dann also im ersten Drittel meines Lebens siebenmal, im zweiten Drittel zweimal und im letzten Drittel kein Mal umgezogen sein würde. Ich strebe aber an, einmal ausschließlich im ersten Drittel meines Lebens umgezogen zu sein. Da ich mit 38 Jahren das letzte Mal die Möbel packte, müsste ich dazu 114 Jahre alt werden und dürfte nie mehr umziehen.
Ich sage: Auch mit 51 muss man große Ziele verfolgen. Paola sagt, sie würde in den nächsten Jahren gern noch mal umziehen. Ich sage: »Oh, Sssseiße.«
Hier können Sie sich diesen Text von Axel Hacke auch vorlesen lassen.
Illustration: Dirk Schmidt