Es ist Sommer, ich habe meine Arbeit getan, das wird ein lauer Abend. Wir könnten in den Biergarten gehen mit den Kindern, man hat nicht so viele solcher Abende, oft gibt es am Spätnachmittag ein Gewitter, nachdem man den Tag im Büro geschwitzt hat, dann ist alles vorbei.
Nun aber gehe ich nach Hause, komme an einem Café vorbei – ja, wer sitzt da? Meine alte Freundin M., die ich lange nicht gesehen habe, sie ist in Begleitung einer guten Bekannten. Wir begrüßen uns. Ob ich mich setzen wolle? Ja, ich will mich setzen. Ja, ich werde den Abend mit einem Glas Bier beginnen. Ja, ich werde ein bisschen hören, was M. zurzeit so macht, welche Projekte sie verfolgt, wir sehen uns selten in letzter Zeit. M. erzählt so, dass wir lachen müssen, auch sie selbst lacht mit weißen schönen Zähnen… Jedoch sehe ich am rechten oberen seitlichen Schneidezahn und dem Eckzahn, zwischen eins-zwo und eins-drei, wie sich mein Zahnarzt ausdrücken würde, etwas Grünes, einen Essensrest, Überbleibsel eines Petersilienblattes vielleicht, von einer schönen Portion Spaghetti aglio e olio.
Was soll ich tun?
Ich versuche, den Makel zu ignorieren. Er ist nicht wesentlich, und irgendwie habe ich Angst, ich könnte die nette Frühabendstimmung hier zerstören. Sie würde beginnen, in ihren Zähnen zu pulen, nach einem Zahnstocher fragen, einen Spiegel suchen, Richtung Toilette verschwinden – unsere angeregte Unterhaltung wäre kaputt. Ohnehin werde ich gleich gehen. Ich bleibe nicht lange, die Familie wartet, der Biergarten auch.
Aber es ist doch ein großes Stück Petersilie. Und M. lacht oft und herzlich, die Zähne bleckend. Meine Stimmung wird immer verhaltener, ich zergrübele mich an diesem grünen Stück. Ich sollte etwas sagen.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Was sagt man in so einer Situation? »Du hast da was Grünes, entschuldige!«?)
Aber wieso bin ich es eigentlich, der sich exponieren muss? Sie sitzt womöglich seit einer Stunde hier mit ihrer Bekannten, einer guten Freundin womöglich; längst hätte die sich zu diesem Thema äußern können, warum tat sie es nicht? Freut sie sich am Makel ihrer Freundin, konkurrieren die beiden in äußerlichen Dingen?
Ich versuche, das Problem zu lösen, indem ich selbst in meinen Zähnen stochere, um sie zu einer Nachahmungshandlung zu bewegen. Vergeblich. Allenfalls betrachtet sie mich irritiert.
Was sagt man in so einer Situation? »Du hast da was Grünes, entschuldige!«? Ich komme ja auch gar nicht dazu, etwas zu sagen, sie selbst redet unablässig.
JETZT! Eine Gesprächspause. Ich muss reden! Da kommt L. vorbei, ein alter Bekannter, er setzt sich zu uns. Das Fenster der Gelegenheit, the window of opportunity – geschlossen. Wenn ich jetzt etwas sage, stelle ich sie vor L. bloß, der gerade zu uns gestoßen ist.
Ich sehe nur noch Grün, spreche mit einem großen Essensrest, der mich anlacht, anleuchtet, anspringt. Wir sitzen hier seit einer Dreiviertelstunde. L. ist wieder gegangen, aber jetzt ist es zu spät, das Thema anzusprechen. Sie wird sagen: Ist das da schon die ganze Zeit? Warum hast du nicht längst etwas gesagt?
Warum hast du mich vor L. mit einem riesigen Petersilienbrocken im Maul sitzen lassen? Ist L. aus Ekel vor mir schnell wieder gegangen? Du willst mein Freund sein – und entbehrst doch jeden Mutes, jeder Ehrlichkeit, jeder Spontaneität! Ich bin von Selbstzweifeln zerfressen. Was bin ich für eine feige, unfreie, zur Kommunikation unfähige Person! Warum hat mich das Leben so werden lassen?!
Seit einer Weile sitze ich schweigend am Tisch. Ich versuche, mich so zu verhalten, dass M. wenig lacht, damit ich den Petersilienstrauß, der aus ihrer Zahnlücke ragt, nicht sehen muss.
Irgendwann nachher wird sie vor einem Spiegel stehen und ihre Zähne sehen. Sie wird erkennen, wie furchtbar sie die ganze Zeit aussah.
Sie wird sagen: Nichts hat er zu mir gesagt, er hat sich geweidet an meiner Lächerlichkeit, an meiner Hässlichkeit, so ist er also in Wahrheit, ein Sadist, ein Menschenhasser, oh, ich verachte ihn. Wir verabschieden uns. »Auf bald!«, ruft sie mit grüner Stimme. Sie weiß noch nicht, was ich weiß: Eine Freundschaft ist zu Ende gegangen, etwas Schönes ist zerbrochen, ich war dem Leben nicht gewachsen.
Ein Sommerabend, wie gesagt, hat begonnen. Ich gehe nach Hause. Man sollte sich ins Bett legen.
(Illustration: Dirk Schmidt)