Nicht mehr lange, dann muss – so sagt ein Gesetzentwurf – auf allen Zigarettenpackungen mit Bildern von verkrebsten Lungen, schwarzen Raucherbeinen, faulenden Zahnstümpfen vor dem Genuss des Inhalts gewarnt werden.
Mich erinnert das an den Fall des Rechtsanwaltes Michael Petersen aus Appleton in Wisconsin, der kürzlich von einem Richter verurteilt wurde, in den kommenden zwölf Monaten jeden, der von ihm vertreten werden wolle, zunächst wörtlich darüber zu informieren, dass er, Petersen, ein Gauner, Betrüger, Dieb und Lügner sei. Petersen hatte in einem Verfahren mit Lügen und gefälschten Dokumenten seinen eigenen Mandanten und das Gericht betrogen. »Ich möchte«, sagte ihm der Richter, »dass Sie so viel zu tun haben wie ein Zuhälter in einem Altenheim.« Nun, man soll Altenheime nicht unterschätzen, aber es könnte nun einen gewissen Einbruch im geschäftlichen Geschehen des Anwalts Petersen geben, wenn er sich jedem Klienten mit den Worten vorstellt: »Ich bin ein Gauner, Betrüger, Dieb und Lügner. Was kann ich für Sie tun?« Andererseits: Stellt man sich nicht genau so einen gewieften Anwalt vor? Wird nicht in den meisten Fällen die Antwort sein: »Mann, ich auch, da passen wir bestens zueinander!«
Die Frage, die sich im Zusammenhang mit den Zigarettenbildchen stellt, ist aber eine andere: Ist es nicht diese Art von Ehrlichkeit, die unsere Gesellschaft braucht? Müsste nicht VW verurteilt werden, in Anzeigenserien sich selbst als führend im Fälschen von Abgasdaten zu bezeichnen? Wäre es nicht schön, wenn vorm Fleischregal im Supermarkt der Geschäftsführer flüsterte: »Auch heute haben wir wieder halb verweste geschredderte Schweineohren dem auch nicht mehr taufrischen Hackfleisch beigemischt! Ganz wie Sie es von uns gewohnt sind …« Hülfe es uns nicht sehr, regt Bruno, mein alter Freund, an, wenn der Orthopäde beim Betreten der Praxis bekanntgäbe, er habe einige Raten für das Zweit-Apartment seiner dritten Tochter aus erster Ehe in Paris abzustottern, deswegen müsse man sich an die komplett unnütze Rücken-OP wagen?
Es wäre nun leicht, an dieser Stelle ein formschönes, sprachlich elaboriertes Plädoyer für die Notwendigkeit der Lüge einzuflechten, für ihre Bedeutung als gesellschaftliches Schmiermittel, für ihren unsere individuellen Beziehungen stimulierenden Reiz. Denn gäbe es den Betrug nicht (hätten wir also nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit) und müssten wir nicht, was wirklich wahr ist, immer erst entdecken, wäre also kein einziger Mensch auf der Welt uns ein Rätsel, weil niemand uns je etwas verbörge oder verbürge oder verbergen würde – oder wie das jetzt wieder heißt – bitte, welche Fadheit wäre das?! Und wenn man dem Menschen immer alles abnimmt, ihm, dem Einzelnen, jede persönliche Wahrheitsfindung ersparte, weil die Wahrheit immer schon da wäre: Bedeutete das nicht eine Missachtung des Einzelnen, seiner Fähigkeiten?
Natürlich würde man auch nicht vergessen, in dieses Plädoyer einzuflechten, dass die Lüge und übrigens auch der Selbstbetrug ein taugliches Mittel des Menschen sei, sich gegen die Anmaßungen der anderen zu wehren: So wird zum Beispiel der zum Rauchen Entschlossene jede frisch erworbene Zigarettenschachtel rasch in ein anderes, möglicherweise selbst gehäkeltes Behältnis gleiten lassen, um der schwarzen Lungen, der faulen Zähne und der Beinstümpfe nicht ansichtig zu werden. Und diese Wahrheit: Stumpft ihr Anblick nicht auch ab? Werden wir diese Schreckensbilder überhaupt noch sehen, wenn wir uns erst einmal an sie gewöhnt haben?
Ja, nun, man könnte das tun, wenn man ein, wie gesagt, so elegantes Plädoyer für die Lüge schreiben möchte. Doch habe ich gerade keine Lust dazu. Denn ich habe Menschen gekannt, die viel rauchten und daran starben, viel zu früh starben sie, ich war sehr traurig, und deshalb habe ich für heute nur noch einen einzigen Satz zu bieten. Rauchen Sie nicht!
Illustration: Dirk Schmidt