Es gäbe so unendlich viel dazu zu sagen und gleichzeitig fällt einem rein gar nichts mehr ein zu dem, was hier in Italien geschehen ist. Nur wenige Leute hatten vorher über die Wahl geredet, und seit der offiziellen Bekanntgabe der Ergebnisse hat niemand in meinem Beisein auch nur ein Wort darüber verloren, höchstens auf eine direkte Frage hin und selbst dann nur zögerlich. Die Zeitungen und das Fernsehen nudeln das Thema zwar in einer Endlosschleife durch, aber die meisten Bürger ziehen es vor, die ganze Angelegenheit zu ignorieren. Vielleicht weil sie einfach nicht mehr die Kraft finden, darüber nachzudenken.
Bei denjenigen, die vor der Wahl überhaupt Lust hatten, über das Thema zu reden, war ein allgemeines, überwältigendes Gefühl von Abscheu zu spüren. In all den Jahren, die ich in Italien zugebracht habe, habe ich unzählige Menschen über die Politiker ihres Landes fluchen hören, doch das unterschied sich jeweils kaum von dem Gegrummel, das die politischen Diskussionen in den meisten Ländern begleitet. Erst der Optimismus, der mit Beginn der Tangentopoli-Untersuchungen in den Neunzigerjahren aufkam, ließ in uns allen Hoffnung aufkeimen. Umsonst. In jüngster Zeit verkümmerten diese Gefühlswallungen zur Ernüchterung über ein politisches System, das mit jedem Monat, der ins Land zog, weiter den Kontakt zur Wirklichkeit verlor. Aber erst jetzt erlebt man richtiggehend Ekel und Verachtung für das politische System, und zwar von Anhängern der Rechten wie der Linken. Den Teufel über eure Häuser!
Hin und wieder frage ich mich, wenn Politiker ihre Reden schwingen, ob Autismus ansteckend sein könnte und die Volksvertreter sich damit infiziert haben. Sie schwatzen ununterbrochen in einer Meta-Sprache, ohne jedes verständliche Wort, unfähig, sich einen Weg aus dem Irrgarten der Konjunktive zu bahnen. Ihre Reden sind gespickt mit Umschreibungen und Anspielungen, mit Andeutungen und Fingerzeigen, doch nichts davon ist fassbar, nichts wird deutlich benannt, und keinem von ihnen scheint auch nur ansatzweise der Gedanke zu kommen, dass ihre Worte an Menschen gerichtet sind.
Der englische Dichter John Milton schrieb einst: »Die hungrigen Schafe blicken auf und werden nicht geweidet.« Wohl wahr.
Während Romano Prodis Amtszeit drängte sich immer wieder die Frage auf, wann er wohl das letzte Mal zu einem menschlichen Wesen – oder auch nur wie ein menschliches Wesen – gesprochen hatte. Er konnte nichts sagen, ohne gönnerhaft zu wirken, konnte nichts erklären, ohne Verwirrung zu stiften. Ein Leitartikel in L’espresso nach der Wahl lobte ihn überschwänglich, weil er sich während seiner Regierungszeit nicht bereichert hat und die EXPO nach Mailand holte (im Alleingang, wie man uns einreden möchte).
Berlusconi dagegen besaß schon immer die Gabe der Anschaulichkeit. Seine Genialität beruht darauf, dass der Durchschnittsbürger jedes seiner Worte versteht. Aber weil diese Worte häufig nicht wahr sind, erübrigt sich die Sache mit der Anschaulichkeit auch schon wieder. Er macht gern Versprechungen: Mal will er diese Steuer senken, dann jene; seine Familie wird sich einschalten und Alitalia retten; die Brücke über die Straße von Messina soll endlich gebaut werden. Die Erlösung ist nah, vielleicht springt ja auch Herr Putin in die Bresche, den der ehrwürdige Abgeordnete Signor Berlusconi erst kürzlich in seinem Heim auf Sardinien begrüßen durfte.
Viele Stimmen gingen bei der Wahl an die Lega Nord. Ihr Anführer, Herr Bossi, der nach einem Schlaganfall nur noch selten im Fernsehen auftritt, ist ebenfalls ein Mann, der seinen Anhängern viel verspricht, also den Leuten, die gern eine Mauer nördlich von Rom ziehen möchten (oder südlich – die Vorstellungen wechseln, wie es scheint, mit den Mondphasen).
Trotz Scheidung und annullierter Ehe schnitt auch der Vorsitzende der christlichen Partei sehr gut ab. Die ehemaligen Faschisten fanden offenbar in Herrn Berlusconis Partei ein Auffangbecken; ungefähr so, wie eine kleine Amöbe von einer größeren geschluckt wird. Man möchte mit dem englischen Dichter John Keats fragen: »Wach oder schlafe ich?«
Gelegentlich spült es einzelne Informationen an die Oberfläche. Die Frau (ja, Frau – wie fortschrittlich wir doch sind!), die Berlusconis Favoritin für den Posten der Justizministerin sein soll, stellt sich als Andreottis Strafverteidigerin bei dessen Mafiaprozess heraus. Ciriaco de Mita verlor nach sage und schreibe 43 Jahren seinen Sitz im Parlament. An der Wahl nahm eine Partei teil, deren einziger Programmpunkt in der Abschaffung der Abtreibung bestand (ja, in Europa, im Jahr 2008!). Ihr Anführer, ein Mann (klar, was sonst?), schien verwundert, dass sie nur 118 000 Stimmen erhalten hatte. Die extreme Linke ist verschwunden. Und die Grünen haben sich in Luft aufgelöst (gegen ihren ehemaligen Vorsitzenden laufen Ermittlungen wegen Korruption).
Den gesamten Wahlkampf hindurch hörte ich nie jemanden etwas Positives über einen bestimmten Kandidaten sagen. Keiner meiner Gesprächspartner wusste auch nur einen Grund, für einen der Kandidaten zu stimmen. Die meisten stimmten gegen Personen oder Ideen. Andere wollten umsichtig wirken: Sie wählten das geringere Übel und versuchten, das als politische Handlung zu betrachten.
Was bleibt? Die italienische Küche ist noch immer gut, die Menschen sind weiter größtenteils herzlich und nett, das Wetter ist schön. Das Kulturerbe Europas bleibt erhalten, die Leute kleiden sich mit Geschmack, das Leben geht weiter. Doch das hier ist kein Ort für Glücksgefühle mehr. Das ist ein Land, in dem der Optimismus eingestampft wurde. Sie suchen das Glück? Gehen Sie nach Spanien.
Aus dem Amerikanischen von Stephan Klapdor; Illustration: Finn Campbell-Notman