Vorige Woche besuchte ich einen Freund auf der Giudecca-Insel. Seine Wohnung liegt direk am Wasser, an der Riva della Giudecca, und vom Wohnzimmer mit seinen vier großen Fenstern reicht der Blick bis hinüber zum Markusplatz. Ein paarmal schon habe ich am Vorabend des Redentore-Festes von dieser Fensterfront aus das Feuerwerk verfolgt und zugesehen, wie die Raketen den Himmel in Flammen setzen und die schönste Stadtszenerie der Welt beleuchten.
Diesmal wollte ich eigentlich bloß auf einen Kaffee vorbeischauen, aber als mein Freund, nachdem ich ausgetrunken hatte, bat: »Komm mit ins Schlafzimmer«, da wurde es plötzlich aufregend. Andererseits ist er dreißig Jahre jünger als ich, vor kaum einem Monat hatte ich auf seiner Hochzeit geweint, seine Frau saß mit uns am Tisch, und darum bedeutete diese Aufforderung vielleicht doch nicht ganz das, wonach sie sich anhörte. Gespannt darauf, wie es weitergehen würde, folgte ich ihm ins andere Zimmer. »Setz dich da hin«, sagte er und wies auf das Bett, von dem aus man das Fenster zur Nordseite der Insel im Blick hatte. Ich setzte mich. »Siehst du das?«, fragte er und fuhr mit dem Finger an der Wand entlang, wo ich, seiner Bewegung folgend, eine Art Strichlinie in der Farbe ausmachte. Mehr als eine Linie. Sollte das wirklich..? Kein Zweifel, es war ein langer vertikaler Riss, der, auf halber Wandhöhe beginnend, bis hinunter zum Fußboden reichte.
Von den mehr als 25 Jahren, die ich nun schon in Venedig lebe, habe ich mindestens 50 damit zugebracht, mir Geschichten über Immobilienprobleme anzuhören. Trotzdem kann ich mir einfach nicht merken, welche die kritischen Risse sind: die, die längs, oder die, die quer verlaufen. »Schau genauer hin«, sagte mein Freund und machte das Licht aus. Wieder gehorchte ich brav.
Der schwache Strahl Tageslicht, der jetzt von draußen ins Zimmer fiel, bewies eindeutig, dass nicht nur der Anstrich oder der Verputz oder vielleicht die Innenwand betroffen waren, sondern dass der Riss sich durch das gesamte Mauerwerk gefressen hatte.
Wir gingen zurück ins Wohnzimmer, und ich versenkte mich abermals in die Betrachtung des Campanile. Unser Gespräch kreiste um den Riss in der Schlafzimmerwand. Eine Stunde später – wir hatten inzwischen das Thema gewechselt – ertönte zu meiner Linken ein dumpfes Brummen, so laut, dass ich aus meinem Stuhl hochschreckte. In Minutenschnelle verschwanden der Campanile, die Basilika, ja das ganze Altstadtpanorama jenseits des Giudecca-Kanals hinter einem siebenstöckigen Kreuzfahrtdampfer, der, von einem Schlepper gezogen, die Stadt wieder verließ, nachdem seine tausendköpfige Gästeschar in den Genuss eines ein- oder vielleicht sogar anderthalbtägigen Venedig-Aufenthalts gekommen war.
Das Wasser in meinem Glas schwappte hin und her, und als ich die Hand danach ausstreckte, spürte ich, wie der ganze Tisch vibrierte. Das leise Unbehagen, das der vorbeiziehende Ozeanriese bei mir auslöste, war nichts gegen die Verzweiflung, in die er meinen Freund stürzte.
In den letzten Jahren hat eine stetig wachsende Flotte von Kreuzfahrtschiffen Tausende von Passagieren in die Stadt gebracht. Zwei, drei, vier dieser Cruiser können am selben Tag in San Basilio, dem Hafen von Venedig, vor Anker liegen, während die Touristen im Gänsemarsch die Gangway hinuntertrippeln und sich zum Landgang um ihre schirmschwingenden Führer scharen. Auf der Besichtigungstour erkunden sie dann im Stundentakt die Schönheiten der Serenissima, die einst als souveräne Stadtrepublik die Weltmeere beherrschte. Und zu den Hauptmahlzeiten geht es zurück aufs Schiff.
Laut einem Artikel, der vor Kurzem in meiner Bibel, dem lokalen Gazzettino, erschien, bleiben die Schiffsmotoren auch während der Liegezeit in Betrieb, um Tausende von Menschen an Bord mit Aircondition, Heizung, Warmwasser, Strom und funktionierendem Abwassersystem zu versorgen. Sie erzeugen dabei jeweils die gleiche Menge an Abgasen, die bei 14 000 Autos anfallen würden, die mit laufendem Motor am Hafen parken. Wie bei jeder in Italien erstellten Statistik ist die Verlässlichkeit dieser Daten schwer einzuschätzen. Aber selbst ein Zehntel der genannten Ziffer wäre schon schlimm genug, wenn man bedenkt, dass sie für jedes einzelne der zwei, drei, vier vor Anker liegenden Schiffe gilt.
Die Venezianer, mit denen ich ins Gespräch komme, beklagen sich ausnahmslos über die erdrückende Präsenz der Hochseedampfer. Jahr für Jahr und Monat für Monat muss jeder, der in unmittelbarer Nähe des Giudecca-Kanals wohnt, hilflos mitansehen, wie Häuser und Kirchen bis in die Grundfesten erbeben und nicht einmal die Wände seines Schlafzimmers verschont bleiben. Der Stadtsäckel profitiert von den Kreuzfahrern, die die Pizzerien oder Imbissstände im Zentrum aufsuchen und ja auch das eine oder andere Souvenir erstehen, bevor sie sich zum Essen und Schlafen zurück an Bord begeben.
Die Stadtverwaltung aber ringt die Hände angesichts der Schäden, genau wie die Anwohner, deren Häuser unter den Erschütterungen leiden. Doch für die Gewässer rings um Venedig sind eine ganze Reihe von Behörden zuständig, zwischen denen jede Maßnahme einzeln abgestimmt werden muss. Und bis all diese Stellen sich auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, werden die Schiffe kommen und gehen, und der Riss in der Rückwand des Schlafzimmers meines Freundes wird breiter und breiter werden. Bon voyage!