Während ich mich nach und nach mit der Nachbarschaft bekannt machte, wurde ich wiederholt auf die Mieterin unter mir angesprochen: »La Regina«. Weil es im venezianischen Dialekt üblich ist, Frauennamen einen Artikel voranzustellen – so bin ich La Donna, meine Freundin ist La Roberta –, glaubte ich, die Dame unter mir heiße Regina. Dass ich tatsächlich über einem gekrönten Haupt wohnte, der Exkönigin von Jugoslawien nämlich, erfuhr ich erst Monate später.
Ab und zu trafen wir uns auf der Treppe, die Queen und ich. Aber obwohl sie ein lupenreines Englisch sprach, ging das, was sie sagte, oft an meinen Worten vorbei. Ihre Garderobe bestand aus einem dunkelblauen Kleid und flachen Pumps; dazu trug sie im Sommer einen Strohhut, dessen Krempe mit kleinen Kirschen garniert war, und im Winter einen Mantel. Mehr hatte sie nicht.
Ich sah sie eher selten, dafür kam mir während meines ersten Winters so einiges über sie zu Ohren. Etwa dass sie einmal im Monat, wenn ihr Pensionsscheck aus England einging, den Großteil des Geldes umgehend in die Parfümerie trug; vom Rest gönnte sie sich einen Bummel durch diverse Bars, um ihr neues Make-up auszuführen.
Als die Tage länger wurden, ließ man sich unverblümter über meine nun nicht mehr neue Nachbarin aus, und jedes Mal, wenn ihr Name fiel, wedelten die Leute mit den Fingern vor dem Kopf herum, als ob sie Fliegen verscheuchten oder einen Bienenschwarm. Ballaballa, plemplem, gaga – nennen Sie es, wie Sie wollen. Jedenfalls versuchte man mir klarzumachen, meine Queen habe nicht alle Tassen im Schrank.
Ungefähr zu Frühlingsbeginn stach mir auf dem Balkon ein merkwürdiger Geruch in die Nase, und während das Wetter immer schöner wurde, war’s mit dem Geruch genau umgekehrt. Bald darauf entdeckte ich die Fliegen, riesige Schmeißfliegen, träge, fett und irgendwie unheimlich.
Mit der Zeit nahm die Geruchsbelästigung derart zu, dass ich erst den Balkon mied und dann nicht einmal mehr die Fenster öffnete. Eines Tages sah ich, wie die Frau von gegenüber ihre gerade erst rausgehängte Wäsche gleich wieder reinholte. Wir grüßten uns, sie zeigte mit dem Finger, fasste sich an den Kopf, und ich begriff, dass der Geruch aus der Wohnung meiner Queen kam.
Jeden Morgen hingen übel riechende Bettlaken über der königlichen Balkonbrüstung, und im selben Maße, wie der Geruch sich täglich mehr zum Gestank auswuchs, verlor La Regina die Fähigkeit, eine vernünftige Unterhaltung zu führen.Ich alarmierte die Polizei, das Gesundheitsamt, den Sozialdienst, ohne Erfolg. Schließlich wandte ich mich ans britische Konsulat (ich hatte gehört, sie sei eine Tante von Prinz Philip, also mit der britischen Königsfamilie verwandt), doch auch dort fühlte sich niemand zuständig.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Und da meine Queen wohl gerade in irgendeiner Bar ihre Lippen nachzog, drangen wir in die Wohnung ein. Was ich dort sah, lässt sich kaum mit Worten schildern.)
Als der Gestank nicht mehr auszuhalten war, drohte ich dem Konsulat damit, mich, falls nicht binnen 24 Stunden jemand vorbeikäme, an die Sun zu wenden. Nicht an den son, wohlgemerkt (der Sohn meiner Queen lebte, wie ich aus ihren Telefonaten mitgekriegt hatte, in London), sondern an das Revolverblatt Sun, dem für seine Schmutzkampagnen gegen die Royals auch eine angeheiratete Tante der Königin genügen würde. Und die Kirschen am Hut von La Regina sahen aus wie ein gefundenes Fressen für die Fotografen.
Am nächsten Tag erschien der britische Konsul mit einer Pflegerin, einer gewissen Mrs. Palmer. Ich weiß nicht, wieso, aber der Konsul hatte einen Wohnungsschlüssel. Und da meine Queen wohl gerade in irgendeiner Bar ihre Lippen nachzog, drangen wir in die Wohnung ein.
Was ich dort sah, lässt sich kaum mit Worten schildern. Genügt es zu erwähnen, dass La Regina im Ruf stand, wahllos Gegenstände in die Toilette zu werfen, so lange, bis der Abfluss verstopft war? Und dass sie jetzt offenbar monatelang mit einem defekten Klo gehaust hatte?
Wären Sie dabei gewesen, hätten Sie sich zu Recht gewundert, woher der Belag auf dem Fußboden kam. Von uns dreien wagte sich allein die couragierte Mrs. Palmer ins Innere der Wohnung vor. Drei Minuten später kam sie schreckensbleich zurück und versicherte, trotz mehrjährigen Einsatzes in kambodschanischen Flüchtlingslagern sei ihr so etwas noch nicht untergekommen.
Am nächsten Tag begleitete Mrs. Palmer Ihre Majestät nach England. Die Männer in den Chemoanzügen, die eine Woche später anrückten, können Sie sich so vorstellen wie die Jungs auf den Dächern von Tschernobyl oder wie die Typen in den weißen Ganzkörperanzügen aus den Katastrophenfilmen. Unser Reinigungstrupp vertäute sein Boot am Ende der calle, und dann zerlegten sie die Wohnung. Sämtliche Möbel inklusive Küchenschränken, Spülbecken, Toilettenvorrichtungen wurden entfernt, die Fußböden abgeschliffen und der Verputz bis aufs Mauerwerk abgeschlagen. Wir grüßten einander auf der Treppe, die Marsmenschen und ich.
Ich weiß nicht, wie lange sie blieben oder wer danach das Reich Ihrer Majestät übernahm: Ich zog aus, während die Arbeiten noch im Gange waren.