Mord und Moral

So viele Gondeln durch Venedig pflügen, so viele Meinungen finden sich in Italien zu jeder öffentlichen Diskussion. Und oft vergessen die Italiener vor lauter Furor den Kern der Debatte.

Der Begriff »Wut am Steuer« beschreibt im Allgemeinen den Ärger, der aufflammt, wenn ein Fahrer einen anderen gegen sich aufbringt. Aber was mich angeht ­ in den seltenen Momenten, in denen ich mein Leben im italienischen Straßenverkehr aufs Spiel setze ­, ist es meine Reaktion auf das Radioprogramm, und Radio höre ich nur beim Autofahren.

Vor einigen Wochen erfuhr ich aus den Sieben-Uhr-Nachrichten, dass das Kassationsgericht die Haftstrafe von 16 Jahren für Annamaria Franzoni endgültig bestätigt hat, eine Frau, die bereits im Jahr 2004 verurteilt wurde, weil sie ihren dreijährigen Sohn erschlagen hatte. Dieser Fall hat Italien in die Lager der innocentisti und der colpevolisti geteilt: Erstere sind davon überzeugt, dass die Frau eine solche Tat nie hätte begehen können; letztere dagegen, dass sie schuldig ist. Viele colpevolisti waren von Anfang an argwöhnisch, die innocentisti dagegen versteiften sich immer auf den festen Glauben, dass eine Mutter niemals ihr eigenes Kind töten könnte. Die Verhandlung selbst wurde, abgesehen vom Medienspektakel, zu einem Präzedenzfall in Legendenbildung. Eine Zeit lang wurde die Mutter häufiger interviewt als der Papst. Einer ihrer Anwälte, ein bekannter Mafiaverteidiger, gab selbst unzählige Interviews und legte dann nach der Verurteilung sein Mandat nieder. Ich erinnere mich vage an einen deutschen Experten der Gerichtsmedizin, der erklärte, die Blutflecken auf ihrem Schlafanzug und auf den Pantoffeln haben nur dann entstehen können, wenn die Trägerin am Bett des Kindes gekniet und wer weiß wie oft mit einer Art
spitzem Gegenstand zugeschlagen habe.

Vergessen habe ich dafür, wer nach Ansicht der Verteidigung den Schlafanzug getragen haben soll, doch sie konnte immerhin dem Vorhandensein von Blutflecken das Fehlen der Tatwaffe entgegenhalten, die tatsächlich nie gefunden wurde. Über die Jahre habe ich erfahren, dass die Angeklagte sich während ihres Verfahrens frei zu Hause aufhalten durfte, angeblich weil ihre Familie enge Verbindungen zur Lega Nord habe, und dann, weil sie mit Romano Prodi verwandt sei.

Meistgelesen diese Woche:

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Sie sei als ein anderer Mensch zur ersten Verhandlung erschienen, somit hätte sie auch nicht verurteilt werden dürfen, meinte ein Psychiater.)

Als sie nach der letzten Urteilsverkündung schließlich ins Gefängnis kam, empfingen sie die anderen Insassinnen mit wüsten Beschimpfungen deshalb wird nun darüber debattiert, sie zu ihrer eigenen Sicherheit in das Frauengefängnis auf der Giudecca zu verlegen, das meine venezianischen Freunde nur als »Schönheitsfarm« bezeichnen.

Heute brachte das Radio nun einige Beispiele dafür, wie ihre Verurteilung aufgenommen wird. Als ich einschaltete, sprach ein Anwalt ­ich weiß nicht, ob er mit dem Fall direkt zu tun gehabt hatte, keine seiner Antworten wies darauf hin. Der Journalist stellte ihm Fragen, ignorierte seine Antworten und nahm sich dafür Zeit, sein großes Mitleid für die arme Frau zu bekunden und zu erwähnen, wie schlimm der Gedanke sei, dass sie nun ihren Kindern und ihrer Familie entrissen werde. Ihren verbliebenen Kindern, sollte man vielleicht hinzufügen, von denen das jüngste ein Jahr nach dem Tod ihres Sohnes zur Welt kam.

Gewiss, diese unglückliche Frau verdient Mitleid: Entweder hat sie ihr
eigenes Kind ermordet oder sie ist ein Opfer der Staatsanwaltschaft. Es war das geifernde ­ und offenkundig verlogene Mitgefühl dieses Journalisten, das mir ein Murren entlockte. Aber ein Murren ist noch keine Wut. Die kam erst beim nächsten Radiogast, einem Psychiater.

Als er um seine Meinung zu dem Urteil gebeten wurde, meinte er, Signora Franzoni gehöre nicht ins Gefängnis, denn schließlich sei sie inzwischen ein vollkommen anderer Mensch als damals, als ihr Sohn starb (man beachte die Formulierung). Sie sei als ein anderer Mensch zur ersten Verhandlung erschienen, somit hätte sie auch nicht verurteilt werden dürfen, das Gleiche gelte für das gescheiterte Berufungsverfahren und zum Dritten­ für die jüngste Urteilsbestätigung.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Italienern schmeckt der Gedanke persönlicher Verantwortung nicht.)

Er sparte sich allerdings die Erklärung, ob sie in den dazwischen liegenden vier Jahren nun vier vollkommen andere Menschen war oder drei oder vielleicht doch nur zwei. »Nicht der gleiche Mensch.« Das war die Stelle, an der mich wirklich die Wut am Steuer überkam und ich das Radio anbrüllte. Ist nicht eines der Ziele der Gesprächstherapie, dass den Menschen ein Licht aufgeht und sie die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen?

Aber was sagt der Psychiater Doktor Wie-heißt-er-gleich-noch? Nach vier Jahren ist ein Mensch auf einmal nicht mehr für das verantwortlich, was er getan hat. Soll das etwa eine neue Verteidigungsstrategie werden? Es muss nur genug Zeit vergehen? Wann reichen denn dann 15 Minuten aus, Herr Doktor? Und weil der Täter damals ein anderer Mensch war, sollte man ihn nicht für die Verbrechen, die diese andere Person begangen hat, bestrafen?

Italienern schmeckt der Gedanke persönlicher Verantwortung nicht: Die Schuld wird immer auf andere Personen oder Umstände abgewälzt. Für jedes Ereignis und jede Angelegenheit hat man immer eine andere, undurchsichtigere Erklärung parat und nichts ist wirklich so, wie es scheint. Leider trifft das tatsächlich häufig genug zu ­man muss sich nur die meisten politischen Ereignisse der jüngeren Zeit in diesem Land in Erinnerung rufen, da bleiben immer Fragen offen.

Und Signora Franzoni? Die betritt jetzt nicht nur das Gefängnis, sondern gleichzeitig auch das Land der Mythen, in dem man sie auf
ewig als weiteres Beispiel für ein historisches Ereignis betrachten wird, bei dem dunkle Mächte Beweise gefälscht haben und dem Gesetz nicht Genüge getan wurde.

Illustration: Finn Campbell-Notman