Die wahre Bedrohung

Unsere Autorin lebt in Venedig und fragt sich: Sind die Folgen des internationalen Tourismus nicht schlimmer als die des internationalen Terrorismus?

Schon eigenartig, was alles so aus einem herausplatzt, wenn man nicht aufpasst. Als wir Kinder waren, erklärte man solche Versprecher damit, dass uns der Teufel etwas eingeflüstert hätte. Später war die Rede von Freud’schen Fehlleistungen, was auch gleich viel erwachsener klang. Schließlich fingen sogar amerikanische Politiker an zu sagen, sie hätten sich »versprochen«, wenn sie mal wieder etwas arg locker mit der Wahrheit umgegangen waren.

Vor einigen Tagen wollte ich einem französischen Journalisten erklären, wie die derzeitige US-Regierung in ihrem Orwell’schen Bemühen um Machtausweitung ständig versucht, unter ihren Bürgern Angst zu schüren. Als Beispiel wollte ich die paranoiden Behauptungen über die »Bedrohung durch den internationalen Terrorismus« anführen, aber heraus kam »die Bedrohung durch den internationalen Tourismus«. Ein Versprecher. Doch Moment mal – könnte hier nicht ein Fünkchen Wahrheit versteckt sein? Der internationale Tourismus leistet einen bedeutenden Beitrag zum Treibhauseffekt, tatkräftig unterstützt von den Billigfluggesellschaften, die Touristen durch die ganze Welt fliegen. Zigtausend Flüge verstopfen täglich die Luftstrecken; Touristen fahren Auto, unternehmen Kreuzfahrten, hocken in Bussen. Was bei diesen Reisen an Abgasen ausgestoßen wird! Und wo landet das alles? In unseren Lungen und auf den Feldern, in unserem Trinkwasser und unseren Lebensmitteln.

Da ich in Venedig wohne, lebe ich direkt mit den Folgen des internationalen Tourismus. Die Abermillionen Touristen haben den Lebensstil, den die Bewohner der Stadt über tausend Jahre hinweg kannten, gänzlich vernichtet. Touristen verbrauchen enorme Mengen Trinkwasser und produzieren eine endlose Masse an menschlichen Abfallprodukten.

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Vergleichen Sie das nun, so Sie möchten, mit den Terroristen. Ruinieren die den Lebensstil einer ganzen Stadt? Verursachen sie eine gigantische Luft-, Wasser- und Umweltverschmutzung? Haben sie Shoppen zur religiösen Handlung erklärt?

Zugegeben, sie ermorden Menschen, aber wenn man jetzt mal kurz die Gefühllosigkeit der Regierung Bush gegenüber Opfern in der Zivilbevölkerung imitieren wollte, könnte man gut sagen, dass Billigflüge und der Bau von Tausenden Golfplätzen, Schwimmbädern und Hotels dem Planeten weit größeren Schaden zugefügt hat als alle Anschläge. Aber nein, diese Perspektive wollen wir lieber nicht einnehmen.Dennoch gilt: Hotelklötze in Nationalparks, Ferienhütten mit Plastikstrohdächern an den Küsten Italiens oder Griechenlands – ja, auch all das könnte man eine Art von Terror nennen.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Noch nie wurde jemand wegen Tourismus angeklagt oder aus einem Bus gezerrt, inhaftiert und fünf Jahre lang gefoltert, bis er gestanden hat, den Planeten zu plündern)

Es ist letztlich alles eine Frage der Ästhetik: Terroristen laufen zwar in Plastiksandalen und Schlafanzug herum und tragen auch gern mal ein Küchentuch auf dem Kopf, aber sind sie nicht schlanke, drahtige, oft attraktive Männer? Weder bevölkern sie in Bermudashorts die Basiliken und Museen, noch hat man je einen von ihnen dabei gesehen, wie er mit einer Plastikflasche in der Hand, iPod im Ohr und Baseballkappe auf dem Kopf so tut, als betrachte er die Pietà.

Die Leute grummeln immer über Touristen – ich weiß das, weil ich es selbst übermäßig oft tue. Regierungen dagegen ignorieren fröhlich die Schäden, die Touristen verursachen. Noch nie wurde jemand wegen Tourismus angeklagt oder aus einem Bus gezerrt, inhaftiert und fünf Jahre lang gefoltert, bis er gestanden hat, den Planeten zu plündern. Wird Leuten, die unter Tourismusverdacht stehen, die Einreise in bestimmte Länder verwehrt? Werden ihre Telefone überwacht?

Auch ist es noch nicht üblich, dass Behörden potenziellen Touristen mit generellem Schuldverdacht begegnen. Als Träger von Bermudashorts wird man nicht automatisch einen halben Tag in der Einwanderungsbehörde festgehalten. Man wird auch nicht aus dem Land gewiesen, im dem man gesetzlich gemeldet ist, nur weil man online den Lonely Planet-Reiseführer für Italien bestellt hat. Noch kann man Menschen unter Tourismusverdacht auch nicht für rechtlos erklären und so lange ins Gefängnis stecken, wie man es für nötig hält.

Warum? Weil Touristen einkaufen, Geld ausgeben und so den weltweiten Konsum mehren. Wird also wohl nichts werden mit der Vorstellung, in Bälde einmal in den Morgennachrichten bei CNN die Eilmeldung zu hören: »Ehepaar aus Minnesota bei Razzia in Touristenabsteige aufgegriffen.«

Illustration: Finn Campbell-Notman