Elternabend 7. Klasse im Jahr 2017. Viele Eltern im Doppelpack und alle besorgt, ausnahmslos. Nein, das ist das falsche Wort. Bedrückt, verzweifelt, fassungslos, hilflos, resigniert. Thema: Was sollen wir nur mit den verdammten Smartphones und Tablets machen, die unsere Kinder in den Händen halten? Kaum nimmst du eines weg, wächst in der anderen Hand eines nach und immer so weiter, bis in alle Ewigkeit!
»Ich überlege«, sagt neben mir ein Vater mit erstickender Stimme, »meiner Tochter eine Zeit-Kontroll-App draufzuladen.« Dabei guckt er, als sei er gezwungen, ihr einen Keuschheitsgürtel umzulegen, oder eine elektronische Fußfessel. Ich horche auf: Zeit-Kontroll-App, das gibt's? Und notiere mir sogleich ihren Namen. »Screen Time«, nuschelt der Vater als verrate er geheimes Herrschaftswissen.
Diesem Aufruf zur Notwehr war eine Diskussion vorangegangen. Zivilisiert natürlich, aber der Firniß über der abgrundtiefen Ohnmacht ist dünn. Es schälten sich dabei folgende Erziehungs-Extreme heraus:
1.Am liebsten wär mir ja, mein Kind bekäme nie ein Smartphone in die Hand, so wie es auch keinen Fernseher, keinen Zucker und keine Fertigwindeln hätte bekommen sollen!
Verbots-Pädagogik. Hält in diesem vorpubertären Alter mit extremem Bezug zur Peergroup anno 2017 aber kaum noch einer durch. Auch wenn nicht wenige im Klassenraum glasige Augen bekommen bei dem Gedanken an ihre Michel-von-Lönneberga-Kindheit – ach, waren das noch Zeiten.
2.Ich habe noch anderes zu tun, als den ganzen Tag meinem Kind hinterher zu rennen und zu kontrollieren, ob und wie lange es da was auf dem Smartphone anstellt. Also lass ich es halt machen, hab ich auch mehr Zeit für mich (und mein Smartphone)!
3. Das Gegenstück zum Laissez-Faire: Also kassieren wir die Dinger eben ein, beim Essen und ab abends um sieben werden alle Smartphones weggesperrt.
Anerkennende, ja bewundernde Blicke von allen im Klassenraum. Gefolgt von stiller Selbstbezichtigung und fatalem Wehklagen auf dem Nachhauseweg. Stimme A: Ich hab versagt, ich war nicht konsequent genug! Stimme B: Aber wie denn, du hast ja auch noch anderes zu tun!
4.War mein Einwurf, den ich total konstruktiv fand. Ich habe es ausprobiert. Es hat funktioniert. Leider meist nur in den Ferien oder den anderen, seltenen, extrem ausgeruhten Situationen: Wenn alle Familienmitglieder entspannt, zugänglich und harmonisch drauf sind und sogar ich es schaffe, so viel Verständnis und Tonlage aufzubringen, dass man in einem gemeinsamen Akt demokratischer Debatte zu einem einstimmigen Konsens kommt.
Dies nenne ich Palaver-Pädagogik. Und die ging beim Einsatz der Geheimwaffe Benutzerzeit-Kontroll-App so:
Mutter: »Jungs, auf dem Elternabend hat ein Vater von einer App erzählt, mit der man die Benutzerzeit von Smartphones einstellen kann. Schon mal gehört?«
Kleiner: »Wer war das?«
Mutter: »Keine Ahnung, aber das könnte uns allen helfen. Ihr bekämt mit, wie irre schnell die Zeit am Computer verfliegt, das spürt man ja oft nicht. Und ich müsste nicht mehr dauernd angerannt kommen und meckern: Jetzt ist die eine Stunde pro Tag aber seit drei Stunden rum! Nervt doch, oder?«
Großer (nicht vom Iphone aufblickend): »Was?«
Kleiner (nicht vom Tablet aufblickend): »Joah.«
Mutter: »Können wir das mal besprechen?«
Großer: »Was denn?«
Ich raffe jetzt etwas, Palaver haben es an sich, dass sie lang dauern, mitunter Tage. Fazit: Der Kleine, 12, und ich beschließen, die Kontroll-App auf sein Tablet zu laden, damit er etwas mehr Ordnung in seinen Alltag bringt. Ist nötig. Weiß er. Von den Lehrern: Er scheint in der Schule momentan den Überblick verloren zu haben. Die dazu passenden Noten verrate ich aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen lieber nicht. Möchte aber zur Beruhigung hinzufügen: Schuld hat nicht das Tablet allein. Schuld hat auch der Fußballwahn, die Pubertät und die Schule selbst.
Der Große (in einer pubertären Trotzanwandlung, nachdem er Tage lang weggehört hatte): »Ich mache das auf gar keinen Fall!«
Mutter (die palaverpädagogische Contenance verlierend): »Doch!«
Großer: »Nein!!«
Mutter: »Na gut!« (jetzt aber konsequent): »Entweder wir laden die App bei dir drauf - oder ich nehme das Iphone ganz weg!!«
Er wirft es aufs Sofa wie einen Fehdehandschuh. Ich sperre es in den Schrank. Er knallt mit der Zimmertür. Kommt wieder raus und ruft: »Das sag ich der Oma!« Die Oma gilt in unserer Familie als Finanzfachfrau. Und weiter: »Dass ihr so ein teures Gerät einfach verkommen lasst!«
Ich sauge jeden Artikel zum Thema Smartphonenutzung auf, die pro und die contra; ich surfe auf Ratgeberseiten des Bundesjugendministeriums herum; und ich habe nun, ach, auch Testergebnisse, Erfahrungsberichte und Bewertungen über diese neuen Zeit-Kontroll-Apps rausgegoogelt (5 Sterne von überschäumenden Eltern, 1 Stern von schäumenden Kindern: »megasinnlos, peinlich, kake, keine Privatspähre mehr«). In der Hoffnung, eine Kontroll-App zu finden, die verlässlich und sinnvoll funktioniert. Und zwar auf Android (Tablet vom Kleinen) und auf IOS (Smartphone vom Großen).
Denn wir verbrachten, der kompromissbereite Kleine und ich, drei Sonntagnachmittage auf dem Sofa, um eine von den Apps zum Laufen zu bringen. Sie heißen beispielsweise: Screen Time, Qstudio, Our Pact, Familee Time, Dinner Time, Family Link. Sie werden auf das Smartphone der Eltern und der Kinder geladen. Man kann mit ihnen kontrollieren, wo das Kind ist, auf welchen Seiten es surft, welche Apps es lädt und wie lange es welche benutzt. Man kann tägliche Zeitlimits aufstellen und nächtliche Schlafenszeiten. Das Kind kann sich durch Erfüllung von Aufgaben Zeit erarbeiten (Abspülen, Hausaufgaben, Astrid-Lindgren-Lesen) und es kann einen Hilferuf absetzen.
Die Zeit-Begrenzung von Screen Time funktionierte auf dem Tablet des Kleinen durchschlagend gut: Nach der von mir programmierten Stunde Nutzerzeit auf bestimmte Spiele-Apps - Whats-App zum Chatten nahmen wir aus, ebenso den Browser zum Googeln für Hausaufgaben und die App zum Musikhören - wurden die inkriminierten Apps einfach eliminiert! Bis zum nächsten Tag. Nach dem ersten Schreck lernte der Mensch umgehend, damit umzugehen - und nahm sein altes Ipod zur Hand. Darauf nahm die Mutter es umgehend in die Geräte-Liste auf.
Ebenso wie, an seinem zweiten smartphonefreien Tag, das des Großen. Er hatte kapituliert und gemerkt: Sein Bruder hatte es überlebt. Jedoch ließ sich ScreenTime nicht auf IOS laden. Ebenso wenig wie QStudio, Our Pact und Dinner Time. Das Iphone nahm die Kontroll-Apps einfach nicht an.
Ich rufe den Geschäftsführer von Familee App an. Dominik Zinser, 27, hat wie die anderen Kontroll-App-Hersteller auch erst vor ein paar Monaten mit dem Startup angefangen. Die Technik stamme aus der Industrie, wo Unternehmen beispielsweise zu verhindern versuchen, dass Angestellte in großem Maßstab während der Arbeitszeit beispielsweise auf Tinder rumnudeln. Ich frage den Chef, ob es möglich wäre, die App auszutricksen? Seitens meines Sohnes. Oder, auch das, seitens des Geräteherstellers. Vielleicht sähe es Apple ja auch nicht so gern sieht, wenn seine Geräte kontrolliert würden? Natürlich kann und mag der Mann dazu nichts sagen - aber dass man sich auf dem relativ neuen »Smart Education Market« bemühe, Eltern und Kinder dazu zu bringen, miteinander zu reden: über das, was auf den Smartphones so passiert. Denn, sagt auch er: »Pädagogik lebt von klaren Regeln.«
Täglich bekomme ich jetzt Mails von den diversen angepeilten Kontroll-Apps: Berichte über Nutzerzeiten, heruntergeladene Apps, sich selbst verlängernde Abos, Premium-Mitgliedschaften von nur 29,99 im Jahr und Sonderaktionen (»Hop to Our ›Eggciting Easter‹ Sale«). Ich klicke sie fast alle weg, harmloses Zeug. Zum Beweis eine Liste der Apps, die mein Kleiner im letzten Monat runtergeladen hat (selbstverständlich habe ich sie aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen verfremdet): Antis, MegaLOL, Agents, InShot, Superheroes Wallpapers HD 5K, Meme Soundboard, Yin Yang Wallpaper, Kickerinho World, Nutzlos (»Diese App ist absolut nutzlos. Sie macht überhaupt nichts. Dafür nimmt sie aber auch keinen Platz weg«), Dab Dance Wallpapers, Manneqin Challenge. Und seit Frühlingsbeginn: 30 Tage ABS Workout und 30 Tage Bizeps-Training.
Wirklich toll wäre es, wenn die Zeit-Regelung auf allen Geräten in unserer Familie funktionieren würde, egal welchen Typs oder welcher Generation. Ganz einfach: 1 Stunde am Tag und am Wochenende auch mal 2. Von mir aus auch auf den Geräten der Eltern. Fürchten würde ich nur, dass wir mit der drakonischen Variante beginnen müssten. Und nicht mit der netten von Familee App. Die geht nämlich so:
Mutter: »Du, ich krieg ja jetzt immer Mails, in denen steht, wie lange du mit welcher App zugange warst, und gestern waren es drei Stunden statt der einen, die wir ausgemacht hatten.«
Kleiner: »Ja, ich weiß.«
Mutter: »Ah.«
Kleiner: »Nach einer Stunde sagt die App: Mach mal 'ne Pause! Dann mach ich drei Minuten Pause. Und dann spiel ich wieder 'ne Stunde.«
Wie gut, dass wir mal geredet haben. Das nennt man konsequente Palaver-Pädagogik, optimiert anhand von Zeitkontroll-Apps.