Es ist nicht so, dass wir uns das nicht schon zu ganz normalen Zeiten gefragt hätten. Aber wie so vieles werden manche Fragen dieser Tage besonders akut, um nicht zu sagen virulent. Vor gut zehn Tagen, kurz nachdem sich unsere italienischen Freunde wegen des Lockdowns und einer Ausgangssperre nach Hause zurückziehen mussten, schob ich daher bei einem der wenigen Abendessen, die wir – Vater, Mutter, zwei Kinder – noch gemeinsam verbringen, die Frage wieder auf den Tisch: Wer gehört hier eigentlich zur Familie?
Wie so viele sind wir nämlich keine »normale Familie«. Also das, was jetzt wohl gemeint ist, wenn von der »Kernfamilie« und den »Angehörigen des eigenen Hausstands« die Rede ist; wenn es heißt, man solle »in den eigenen vier Wänden mit der Familie zusammen sein« und selbst dort wenn möglich noch einen »Mindestabstand zu den Familienmitgliedern wahren«, nach draußen aber höchstens »mit einer weiteren Kontaktperson« verkehren. Wenn es nicht so ernst wäre, müsste ich wahrscheinlich kichern, so irre ist das und so fern von den Lebensverhältnissen der meisten unserer Freunde und Bekannten, die in verschiedensten Patchwork-Konstellationen leben, zum Beispiel im Wechsel-, Nest- oder Pendler-Modell.
Wir sind eine Mischung aus Nest- und Wechselfamilie mit einer Tendenz zum pendelnden Patchwork und Ansätzen von Hippiekommune
Wir zum Beispiel sind eine Mischung aus Nest- und Wechselfamilie mit einer Tendenz zum pendelnden Patchwork und Ansätzen von Hippiekommune. Dazu gehören Vater, Mutter, zwei jugendliche Kinder. Die Großeltern, die wir traditionell dazuzählten, wurden durch Corona quasi rauskatapultiert – zum ersten Mal können wir froh sein, dass die Alten in Deutschland oft so isoliert und fern von ihren Kindern und Kindeskindern leben. In unseren vier Wänden leben die jugendlichen Kinder und im Wechsel Vater und Mutter sowie manchmal auch die Freundin des Vaters und der Freund der Mutter, außerdem gerade quasi dauerhaft die erste feste Freundin des großen Sohns. Von »Abstand wahren« kann da keine Rede sein – schulfrei, Abi verschoben, Partyverbot, und jetzt die erste Liebe verbieten!? Wie sollte das gehen? Und wie könnten wir dem kleinen Bruder einen Freund untersagen, der ihm zur Seite steht, wenn die anderen aus der Familie mit ihren Freund*innen Händchen halten?
Weiß die Familie deiner Freundin, habe ich meinen großen Sohn gefragt, wie es bei uns zugeht?
Wieso, hat er gesagt, ist doch ganz normal.
Die Freundin des Vaters lebt allein und ihre Herkunftsfamilie ist momentan stark erschüttert. Und da soll sie allein daheim bleiben, in ihren vier Wänden, und bei uns draußen vor unserer Tür? Der Freund der Mutter lebt allein und ist bei seiner ursprünglichen Familie nicht so gelitten, dass sie ihn in ihren vier Wänden haben wollte, zumal seit er auf Arbeit im medizinischen Bereich Kontakt hatte zu einer potentiell coronapositiven Patientin. Was er allerdings erst erfuhr, nachdem wir fast alle gemeinsam im erweiterten Familienkreis zu Abend gegessen hatten.
Und damit wird die Familienfrage nun echt virulent: Darf seine Freundin ihn allein lassen oder besuchen? Gäbe es eine strikte Ausgangssperre, dürfte die Freundin/der Freund dann quer durch die Stadt in einen entfernten Bezirk fahren, obwohl es weder zur Arbeit noch zum Arzt und nicht zur »Familie« geht, zumindest zu keiner durch Trauschein oder andere Dokumente beglaubigten? Wenn die Exekutive mich anhielte, was würde ich sagen: Ich will von meinen Kindern zu meinem »Mann«? Was würden die wohl denken? Und wie sollte ich mich ausweisen, ich bin nicht verheiratet und war es noch nie und was wäre, wenn ich im Notfall Auskunft erhalten wollte über den Zustand des einen oder anderen Freundes auf irgendeiner Krankenstation?
Ich habe meine Freundin gefragt. Sie pendelt seit Jahren zwischen ihren Söhnen und ihrem Freund. Wenn sie bei ihm ist, sind die Söhne bei ihrem Vater, zusammen mit der Tochter der neuen Frau und dem Sohn einer, die mal dazwischen kam. Wenn sie als Familie frische Luft schnappen gehen wollten, was sie per definitionem dürften, spazierten da elf Leute durch den Kiez. Das verstieße gegen das Versammlungsverbot. Eine Familie ist es aber trotzdem. Und da sind noch nicht mal weitere Kontaktpersonen der jugendlichen Kinder dazu gezählt. Auch Liebhaber*innen wollen wir hier mal verschweigen, um alles nicht noch komlizierter zu machen.
Meine Freundin hat leicht hysterisch gekichert, es war beim Joggen und sie hielt auf anderthalb Meter Abstand ihre Armbeuge vors Gesicht. Stell dir vor, sagte sie, jetzt gerät der Vater von der Freundin vom Sohn vom Ex in Corona-Verdacht und man würde von uns verlangen, wir sollten uns in unsere vier Wände zurückziehen, wie jede anständige Familie: Alles flöge in Nullkommanix in die Luft!
Der Charakter einer Frau, hat Rosa Luxemburg gesagt, zeige sich nicht wo die Liebe beginnt, sondern wo sie endet. Die wahren Verhältnisse einer Gesellschaft zeigen sich, wo die Katastrophe beginnt. Unter Belastung werden alle Fragezeichen noch größer. Ich würde hier gerne Antworten verkünden, irgendeinen schlauen Weg raus aus dem Familien-Dilemma. Aber Antworten haben wir auf die Schnelle keine gefunden, in unseren vierundzwanzig Wänden.