»Auch wenn ich schlafe, aktualisiert sich die Seite«

Die weltweit beste Info-Seite zum Coronavirus stammt von einem Teenager aus Seattle. Im Interview erklärt Avi Schiffmann, 17, warum er sich schon im Dezember für die neue Krankheit interessierte, was er von Trumps Gesundheitspolitik hält und wie es ihm gelingt, schneller als Behörden und Institutionen zu sein.

Schneller als die Behörden: Avi Schiffmann, 17, aus Seattle.

Foto: Privat

Die offizielle Coronavirus-Webseite der amerikanischen Gesundheitsbehörden (CDC) hinkte diese Woche oft tagelang den tatsächlichen Ereignissen hinterher. Aktuelle Zahlen sind da nicht zu bekommen. Bürger, Journalisten und sogar Experten konsultieren deshalb eine andere Webseite, die minütlich aktualisiert wird – mit einer interaktiven Karte, Twitterfeed und internationalen wie nationalen Daten. Hinter https://ncov2019.live/ steckt jedoch keine Behörde oder große Institution, sondern ein einziger Teenager: Der 17-jährige Gymnasiast Avi Schiffmann lebt in Mercer Island bei Seattle und begann die Webseite schon im Dezember 2019 einzurichten, als selbst Experten das Virus noch kaum auf dem Radar hatten.

SZ-Magazin: Wie viele Besucher hat Deine Webseite?
Avi Schiffmann: 53 Millionen. Allein in den letzten 24 Stunden waren es mehr als 12 Millionen, am Tag zuvor 6 Millionen, es werden jeden Tag mehr. Das wächst stündlich. Bis Ende des Monats werden wir wohl eine Milliarde erreichen. Es ist völlig verrückt.

Wie kamst Du darauf, die Seite schon im Dezember zu bauen? Da war das Virus noch gar nicht außerhalb Chinas entdeckt worden.
Ich fing nach Weihnachten damit an, es gab weniger als 1000 Fälle in China, und es war sehr schwierig, Informationen zu bekommen. Man musste sich durch chinesische Regierungs-Webseiten arbeiten, also dachte ich, ich entwerfe eine einfache, klare Webseite, wo sich die Leute informieren können. Ich bereite die Informationen graphisch auf, ohne Anzeigen, das sieht sonst so billig aus. Ich möchte nur Informationen bieten.

Meistgelesen diese Woche:

Sprichst Du Chinesisch?
Nein, aber ich habe Leute gefunden, die für mich übersetzen.

Also machst Du die Seite nicht ganz alleine?
Doch, nur für die Übersetzungen brauche ich Hilfe.

»Es ist die gleiche Krankheit, aber wie die Länder sie behandeln, macht den Unterschied«

Aber was genau hat Dich veranlasst, schon im Dezember zu denken, das Thema wird mal wichtig? Liegt es daran, dass Deine Mutter Ärztin ist und Dein Vater Biologe?
Ich habe nie erwartet, dass das Virus so wichtig wird. Ich wollte eine coole Webseite machen, um selbst dazu zu lernen und Leute zu informieren. Ich werde sie bald in GermTracker.com umbenennen, weil das einfacher zu buchstabieren ist. Das Coden ist für mich, was für Maler ihr Pinsel ist. Ich finde das einfach kreativ und nützlich.

Wie funktioniert die Webseite?
Es gibt globale und nationale Daten, interaktive Karten, Hinweise zu den jüngsten Quarantäne-Massnahmen. Man kann die Daten nach Krankheitszahlen, bestätigten Fällen, Todesfällen, Region etc. sortieren. Es zeigt auch für jedes Land die schweren Fälle und die Erholungszahlen. Ich entwickle die Seite ständig weiter, bald mit Informationen, wo man sich testen lassen kann und hoffentlich einem Impfstoff-Tracker, der die Entwicklung von Impfstoffen verfolgt.

Wie ist die Resonanz?
Wahnsinn. Ich bekomme jeden Tag 2000 Emails und Anfragen. Letzten Monat bekam ich viele Emails, dass die Seite zu negativ ist. Also habe ich die Genesungszahlen mit aufgenommen, um nicht nur die Todeszahlen zu nennen, sondern auch zu zeigen, wie viele Menschen sich von der Infektion erholen. Für jedes Land kann man nun nachschauen, wie viele Menschen wieder genesen sind und das gibt vielen Menschen Hoffnung. Es ist nicht alles negativ; die Erholungsdaten sind riesig.

Wie oft aktualisierst Du die Seite?
Jede Minute. Das passiert alles automatisch, mit Scraping Software. Ich gebe manuell keine Daten ein. Auch wenn ich schlafe, aktualisiert sich die Seite. China, zum Beispiel, hat seine eigenen regionalen Gesundheitsbehörden. Meine Software liest diese Seiten und überträgt die Information in meine Datenbank. Man sollte keine koreanischen Regierungsseiten durchforsten müssen, um zu verstehen, wie viele Leute sich in Korea angesteckt haben.

Wie stellst Du sicher, dass die Zahlen stimmen?
Glaubwürdige Quellen sind das wichtigste. Meine Daten sind nur so korrekt wie die Meldungen der verschiedenen Regierungen. Traue ich China? Na ja. In Korea gibt es zum Beispiel die Nachrichtenagentur Yonhap, die einen guten Ruf hat und Informationen oft schneller bekommt als die lokalen Regierungsseiten. Die Software überprüft dann die Zahlen mit anderen Quellen, zum Beispiel aus Amerika.

Apropos Amerika: Die offizielle Webseite der amerikanischen Gesundheitsbehörden ist…
… eine Katastrophe. Die Zahlen sind um Tage veraltet, man muss sich mühsam ein PDF runterladen. Ich glaube, das liegt daran, dass es eine Regierungsbehörde ist. Die arbeiten wohl am Wochenende gar nicht. Es ist lächerlich.

Du machst eine bessere Seite als die Regierungsbehörden.
Und die Seite der WHO ist auch nicht viel besser.

»Südkorea macht das meiner Meinung nach derzeit am besten, das Land kann mehr als zehntausend Tests pro Tag durchführen. In Amerika dagegen liegen wir bei etwa tausend Tests pro Woche, das ist ziemlich armselig«

Hat Dich schon jemand von den anderen Informationsseiten kontaktiert? Vielleicht Google? Trump hat ja angekündigt, eine Google-Tochter werde eine Infoseite bauen.
Davon träume ich!

Wer hat Dir das Programmieren beigebracht?
Ich mir selbst, ich programmiere seit zehn Jahren. Das klingt vielleicht verrückt, weil ich erst 17 bin, aber man kann sich das ja alles leicht selbst auf YouTube beibringen. Für jede Frage findet man online Antworten.

Du beschäftigst Dich jeden Tag stundenlang mit den Coronavirus-Daten. Welche Entwicklungen fallen Dir auf?
Vor einer Woche hatten Südkorea und der Iran fast identische Krankheitszahlen, aber die Sterblichkeitsrate ist im Iran fünf bis zehn Mal so hoch. Das zeigt: Es ist die gleiche Krankheit, aber wie die Länder sie behandeln, macht den Unterschied. Nicht alle verordnen Quarantäne.

Die Zahlen in den USA sind vermutlich nur deshalb so niedrig, weil kaum getestet wird.
Viele Länder sind auf diese Pandemie nicht vorbereitet. Das macht mir Angst. Das Coronavirus ist nicht sooo schlimm, etwa im Vergleich zu Ebola, aber unsere Regierung hat das nicht im Griff. Es gibt kein System. Jede Regierung beurteilt das anders. Ich finde, die Welt muss da besser zusammen arbeiten. Südkorea macht das meiner Meinung nach derzeit am besten, das Land kann mehr als zehntausend Tests pro Tag durchführen. In Amerika dagegen liegen wir bei etwa tausend Tests pro Woche, das ist ziemlich armselig. Es gibt hier keinen Plan. Ich vertraue den Gesundheitsbehörden, aber was die da anstellen, hat meine Meinung sehr zum Negativen hin verändert.

»Ich will das nächste große Ding stemmen, die Welt verändern.«

Foto: Privat

Wie finanzierst Du Deine Arbeit? Auf Deiner Seite ist keine Werbung zu sehen, nur eine kleine Aufforderung, Dir einen Kaffee zu spendieren.
Meine Ausrüstung ist eher billig, ich habe die Software gut programmiert, damit sie einwandfrei funktioniert, und viele Leute spenden Kleinbeträge.

Bei Dir in Seattle fällt, wie fast überall, für zwei Monate die Schule aus. Was machst Du nun?
Es ist gut, dass sie die Schulen geschlossen haben, denn Schulen sind ein fantastischer Weg, Viren zu verbreiten. Und ich habe mehr Zeit, an der Seite zu arbeiten. Es gibt ansonsten eh nichts zu tun. Alles ist geschlossen.

Welche Pläne hast Du für die Zeit nach Corona?
Die Coronavirus-Webseite werden wir nicht ewig brauchen. Ich will das nächste große Ding stemmen, die Welt verändern. Wenn es eine neue Pandemie gibt, werde ich der erste sein, der dafür einen Tracker baut. Ich will niemand anderen imitieren. Ich will der nächste Avi Schiffmann werden.

Wie schützt Du Dich selbst?
Ehrlich gesagt glaube ich, dass sich die Infektion nicht mehr vermeiden lässt. Seattle ist ja einer der Hot Spots, und es macht mir ein wenig Angst, dass so viele Leute, die krank sind und husten, jeden Tag zu meiner Mutter in die Praxis kommen. Vielleicht habe ich das Virus schon. Meine größte Sorge ist, dass ich meine Großmutter anstecke, die lebt bei uns im Haus.

Hat Deine Erfahrung mit der Webseite Deine Pläne oder Deine Weltsicht verändert?
Ja, weil wir an einem Punkt sind, wo wir mit Technologie alle möglichen Probleme lösen können. Dafür ist eine globale Pandemie ein gutes Beispiel. Als Ebola oder SARS ausbrachen, gab es keine Webseite, auf der man sich jede Minute über den aktuellen Stand informieren konnte. Es ist so cool, dass man damit Desinformation bekämpfen kann, indem man einfach nur die nackten Fakten anbietet. Auch die Kombination von Technologie und globaler Gesundheit ist faszinierend. Ich hoffe, die Seite inspiriert andere, Programmieren zu lernen und hilfreiche Seiten zu bauen.