Das Problem: Krankenhäuser und Arztpraxen zählen zu den größten Müllproduzenten in Deutschland.
Die Lösung: Wiederverwendbare Produkte und innovatives Recycling.
Nach ihrem Ingenieurs-Studium erfüllte sich Nora Stroetzel einen langgehegten Traum und ging auf Weltreise. Sie liebt abgelegene Orte wie den indonesischen Dschungel oder die Berge im Himalaya, und sie lernte Tauchen vor Inselriffen, die sie nur mit Hilfe von lokalen Fischerbooten erreichen konnte. Aber eines ärgerte sie: »Egal, wie fernab von der Zivilisation ich war, eines war immer schon vor mir da: Plastik«, sagt Stroetzel, 34. »Plastik, das dort für immer bleiben und niemals verrotten wird, auf über 4000 Meter Höhe und angespült an Stränden mehrere hundert Kilometer von der nächsten größeren Stadt entfernt.« Sie sah »wilde Orang-Utans, die durch Rascheln von Plastik von den Bäumen gelockt werden konnten und Einsiedlerkrebse, die Plastikdeckel statt Muscheln als Behausung gewählt hatten.«
Auf ihren Reisen engagierte sich Stroetzel bereits bei Strandsäuberungsaktionen und beim Bau einer Mülltrennungsstation in Indonesien. Aber der entscheidende Wendepunkt kam, als sie nach Kiel zurückgekehrt war: »Ich bekam bei meinem Zahnarzt einen Plastikbecher in die Hand gedrückt, um mir den Mund auszuspülen. Den hatte ich vielleicht zehn Sekunden in der Hand, und dann wurde der weggeworfen«, erzählt Stroetzel. »Das hat mich so gestört und auch wütend gemacht.« Sie beschloss, Alternativen zu recherchieren und wurde fündig: »Es gibt leicht zu reinigende Mehrwegbecher.« Fast alle Zahnarztpraxen sterilisierten ohnehin ihre Geräte, das könnten sie also auch mit den Bechern tun, sagt Stroetzel. »Gerade an diesem Beispiel kann man gut sehen, dass wir Plastik unnötig häufig verwenden.«
So entstand ihr Startup POP – Praxis ohne Plastik, das sie in diesem Sommer gemeinsam mit Nicolai Niethe, 32, gründete, einem IT-Experten und ehemaligen WG-Mitbewohner. Das Gründerstipendium Schleswig-Holstein war ausschlaggebend dafür, dass sie es wagten, ihre Jobs zu kündigen. Seit diesem Sommer bieten sie in einem B2B-Onlineshop nachhaltige Medizinprodukte an, außerdem beraten sie Praxisteams, wie Müll und Energie vermieden bzw. gespart werden können. Das zugrunde liegende Problem ist größer, als man vielleicht denken würde: Laut Studien fallen in Krankenhäusern im Durchschnitt 400 Gramm Plastikmüll pro Patient und Tag an, sie gelten als fünftgrößter Müllproduzent in Deutschland.
Als Beispiele für ökologische Lösungen nennen Stroetzel und Niethe Bambuszahnbürsten, wiederverwendbare Mundspülbecher, nachhaltige Zahnhygiene-Sets, waschbare FFP2-Gesichtsmasken und Handschuhe aus Nitril, einer gummiartigen chemischen Verbindung. Die wurden in der Herstellung laut Stroetzel »so optimiert, dass sie weniger Wasser und Energie benötigen, haben also eine bessere CO2-Bilanz als herkömmliche Handschuhe.«
Stroetzel fand nachhaltige Alternativen für viele Produkte, aber »nicht von den großen Herstellern und wenn doch, dann nur vereinzelt.« Der Aufwand, diese Produkte zu finden, sei enorm. Teils seien sie nur über kleine Hersteller direkt zu beziehen, in Deutschland noch nicht zugelassen oder noch nicht bestellbar.« Für solche Recherchen haben Ärzte und Praxisangestellte im hektischen Alltag aber oft keine Zeit, trotz eines grundsätzlichen Interesses. Als Stroetzel mit befreundeten Ärztinnen und Ärzten sprach, »sagten die ganz klar, sie ärgern sich auch, wenn sie zuhause versuchen, jede einzelne Plastiktüte zu vermeiden, aber bei der Arbeit gezwungen werden, solche Massen an Plastik zu verwenden. In vielen Bereichen ist das überhaupt nicht notwendig.« Diese Erfahrung spiegelt die jüngste Repräsentativumfrage der Stiftung Gesundheit: Neun von zehn Ärztinnen und Ärzten sind sich der Dringlichkeit von nachhaltigen Lösungen in medizinischen Einrichtungen bewusst, aber es hapert an der Umsetzung und am spezifischen Knowhow.
Manche Narkosegase sind für das Klima 2500 Mal schädlicher als Kohlendioxid
Klar, ohne Mehraufwand wird die Umstellung nicht gehen. »Unsere Kunden sagen uns, sie wären bereit, für nachhaltige Produkte bis zu 30 Prozent mehr zu bezahlen, aber oft kosten sie gar nicht mehr.« Bei nachhaltigen Auflagen für Behandlungsliegen etwa gebe es »gar keinen Preisunterschied«. Arztkittel aus nachhaltig und fair produzierter Baumwolle seien nur wenige Euro teurer als konventionelle.
Eine Praxis wirklich nachhaltig zu organisieren, ist aber nicht einfach, das geben Stroetzel und Niethe selbst zu. Das liege auch an manchen, ihrer Meinung nach reichlich komplizierten Hygiene-Bestimmungen sowie an den Herstellern von Medizinprodukten, bei denen die Gründer nun Druck machen wollen. »Klar, die Liegenauflage muss steril sein«, sagt Niethe. Es gebe Liegenauflagen aus recyceltem Papier, aber selbst diese seien gelegentlich erneut mit Plastik beschichtet oder in Plastik eingeschweißt. »Wir fragen dann bei den Herstellern nach: Wie ist das Ganze denn verpackt? Wie wird es versendet?« Häufig seien Medizinprodukte doppelt und dreifach eingepackt und verschweißt, obwohl das gar nicht nötig sei. Schließlich schade das Plastik nicht nur dem Planeten, sondern letztlich auch den Patienten: Als Mikroplastik findet es auch den Weg in unsere Körper. Etwa fünf Gramm, etwa das Gewicht einer Kreditkarte, nehme ein Mensch pro Woche auf – allerdings natürlich durch jede Art von Alltagskontakten, nicht in erster Linie durch Arztbesuche.
Stroetzel und Niethe beobachten, dass das Thema Nachhaltigkeit längst auch bei großen Kliniken und medizinischen Organisationen angekommen ist, zumindest als Vorsatz. So kommunizieren sie mit der Uniklinik Kiel, dem Netzwerk nachhaltiger Praxen, der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG), dem MedTech Forum zu Nachhaltigkeit, Health for Future und diversen Arbeitskreisen zu Plastik und Nachhaltigkeit.
Die Berliner Charité beispielsweise, Europas größtes Universitätsklinikum, hat sich das Ziel gesetzt, klimaneutral zu werden. Eine Arbeitsgruppe analysiert derzeit die größten Klimakiller im Klinikbetrieb und hat unter anderem festgestellt, dass allein die Krankenhauskittel jedes Jahr mehr als 200 Tonnen CO2 verursachen. Die Nachhaltigkeitsmanager testen derzeit leichtere, nachhaltige Kittel aus recycelter Zellulose.
Die größte Wirkung könnten Krankenhäuser allerdings mit Filtern für die Narkosegase erreichen. »Ein Tag im OP verursacht genau soviel CO2 Ausstoß wie vier Tage Auto fahren«, sagte die Anästhesistin Susanne Koch in der ZDF-Reportage »Klimaschutz im Krankenhaus«. Manche Narkosegase sind für das Klima 2500 Mal schädlicher als Kohlendioxid. Das heisst: 16 Millionen Narkosen im Jahr entsprechen dem Ausstoß von 600.000 Tonnen CO2-Äquivalenten in die Atmosphäre. Bei Studien wurden Narkosegase im Himalaya und in der Arktis gefunden, also weit entfernt von jeglichen OP-Sälen.
Die Lösung könnte ein in Brandenburg hergestellter Filter mit Kokosnussfasern sein, der mehr als 96 Prozent der Gase auffängt, damit man sie wiederverwerten kann. Noch sind die Filter in der Probephase, aber schon im nächsten Jahr könnten sie im Krankenhausbetrieb verwendet werden – damit die Narkosegase eben nur die Patienten und nicht den ganzen Planeten lahmlegen.