Der Wendepunkt kam für Susanne Koch, als der Keller ihres Hauses in Berlin-Frohnau im Sommer 2018 nach einem Starkregen vollgelaufen war. Nachdem sie ihn wieder trockengelegt hatte, »wollte ich mal genau die Fakten wissen, wie da der Zusammenhang mit dem Klimawandel ist«, sagt die energische Ärztin von der Charité Berlin. »Als ich mich dann eingelesen hatte, Mann, da merkte ich, wie dringend die Klimakrise ist. Uns steht das Wasser tatsächlich bis zum Hals!«
Aus dem privaten Schock wurde auch ein beruflicher: Koch, ursprünglich Neurologin, hatte sich zur Anästhesiologin weitergebildet und erfuhr bei ihren Recherchen zur Klimakrise, dass ausgerechnet inhalative Narkosegase zu den schädlichsten Klimagasen überhaupt zählen. »Wenn ich sieben Stunden im OP mit Desfluran Narkosen gebe«, sagt Koch, »ist das genauso schädlich fürs Klima wie wenn ich im Auto von Berlin bis nach Westafrika fahre.« Die 16 Millionen Narkosen, die in Deutschland im Durchschnitt pro Jahr verabreicht werden, entsprechen dem Ausstoß von 600.000 Tonnen CO2-Äquivalenten in die Atmosphäre. Bei Studien wurden Narkosegase weit entfernt von OP-Sälen gefunden, etwa im Himalaya und in der Arktis.
Patienten denken bei medizinischen Eingriffen vor allem daran, dass alles sicher abläuft, weniger an den CO2-Fußabdruck der Prozedur. Für Susanne Koch gehört beides zusammen: »Ein stabiles Klima ist für unsere Gesundheit und unser Überleben essenziell.« Tatsächlich zählt das Gesundheitssystem zu den CO2-intensivsten Sektoren und ist für knapp fünf Prozent der weltweiten Klimagas-Emissionen verantwortlich. »Darüber hinaus ist es auch ein Großverbraucher von Ressourcen wie Wasser und Energie und führt zur Belastung der Umwelt mit Arzneimitteln und toxischen Substanzen«, schreibt der Berufsverbands der Anästhesisten. »Nicht nur die Anästhesiologie, sondern die ganze medizinische Versorgung hat ein Klimaproblem«, bekräftigt Jodi Sherman, Anästhesiologie-Professorin und zugleich Direktorin des Nachhaltigkeitsprogramms an der Yale Universität. »Emissionen des Gesundheitswesens führen zu so viel Toden wie vermeidbare medizinische Fehler, und wir sollten sie genau so ernst nehmen.«
Susanne Koch war entsetzt darüber, dass ihr Beruf für den Planeten so schädlich ist. Besonders ärgerte sich die Ärztin, dass sie während des Anästhesiologie-Studiums nie ein Wort darüber gehört hatte. Zum Beispiel zu den Gefahren von Desfluran, dem mit Abstand klimaschädlichsten – und teuersten – aller Narkosegase – sein Treibhauseffekt ist 2600-mal ausgeprägter als der von Kohlendioxid. Lachgas (Distickstoffoxid) ist wegen seiner extrem langen atmosphärischen Lebensdauer das zweitschädlichste, und es schädigt zusätzlich noch die Ozonschicht. Deshalb lag für Koch eine einfache Lösung auf der Hand: »Wir haben das Desfluran einfach weggelassen. Statt inhalativer Narkosegase nutzen wir regionale Narkosemittel oder intravenöse wie Propofol. Das war nicht von oben angeordnet, sondern wir haben das einfach so gemacht.«
Jungen Anästhesist*innen werde die Narkose mit Desfluran als Standard beigebracht, weil das Aufwachen des Patienten damit sehr leicht zu steuern sei, sagt Koch. »Aber mit etwas Erfahrung kann man das mit Propofol genau so gut machen. Noch dazu neigen Menschen nach Propofol-Narkosen weniger zur Übelkeit.« Dank dieser Maßnahme habe sich der Ausstoß von klimaschädlichen Gasen in der Anästhesiologieabteilung der Charité seit 2016 auf ein Zehntel reduziert, »einfach nur dadurch, dass wir Propofol nehmen.« Die Yale New Haven Kliniken im US-Bundesstaat Connecticut beendeten den Einsatz von Desfluran auf Initiative von Jodi Sherman schon 2013. Damals war die Klinik die weltweit erste Gesundheitsorganisation, die ein Medikament aus rein ökologischen Gründen nicht mehr verwendet. Sherman hat berechnet, dass Yale dadurch mehr als 1,2 Millionen Dollar Kosten und 1600 Tonnen CO2-Äquivalente einsparte.
Weil halogenierte Kohlenwasserstoffe (zu denen auch die Narkose-Gase zählen) ein immens erderwärmendes Potenzial haben, wurde bereits 2005 im Rahmen des Kyoto-Protokolls eine weltweite Reduktion vereinbart und 2016 ein weltweiter Verzicht bis 2035 unterzeichnet. Tatsächlich aber steigt die Verwendung der klimaschädlichen Narkosegase weltweit beharrlich, unter anderem wegen der verbesserten medizinischen Versorgung in aufstrebenden Entwicklungsländern und weil Menschen in industrialisierten Ländern länger leben und deshalb mehr Operationen brauchen.
Auch die EU empfahl ihren Mitgliedstaaten die Reduzierung von inhalativer Narkose und überlegte gar ein Verbot von Desfluran, das ab 2026 nur noch in medizinischen Ausnahmefällen genutzt werden sollte, scheiterte aber am Widerspruch der Interessenverbände. Andere Länder sind da schon weiter. In Großbritannien beispielsweise schuf der National Health Service (NHS) 2008 eine Abteilung für nachhaltige Entwicklung, die unter anderem die CO2-Emissionen im Gesundheitssektor misst. Der britische Gesundheitsdienst hat sich als erster weltweit dazu verpflichtet, bis 2040 klimaneutral zu werden und verringerte die Emissionen von Treibhausgasen im Vergleich zu 1990 bereits um 26 Prozent. »Die Beweislage, dass die Klimakrise auch eine Gesundheitskrise ist, ist überwältigend«, sagt Nick Watts, der Nachhaltigkeitschef des NHS. »Gesundheitsexperten müssen jetzt schon die Symptome behandeln.«
»Wir müssen uns ehrgeizige, wissenschaftlich fundierte Emissionsziele setzen, damit wir vor 2050 klimaneutral werden«
Jodi Sherman, Yale-Professorin
Für Jodi Sherman sind das Messen und die transparente Kommunikation der Emissionen im Gesundheitswesen der notwendige erste Schritt, um Lösungen zu finden. »In England werden diese Ergebnisse regelmäßig aktualisiert und verbessert«, lobt sie. Die Yale-Professorin entwickelte unter anderem eine Umweltschutz-App für Anäesthesiologen, die Yale Gassing Greener App. Damit sehen Narkoseärzte auf einen Blick, wieviel Umweltverschmutzung sie durch die Wahl weniger schädlicher Narkosemittel vermeiden. Genau wie Koch ist auch Sherman davon überzeugt, dass es zur Aufgabe von Ärzten zählt, die Schädigung des Klimas so weit wie möglich zu unterlassen. »Das ist die neue Herausforderung, wenn es um Patientensicherheit geht.«
Die Biden-Regierung kündigte bei der Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP27) an, mehr als 100 Gesundheitsversorger hätten versprochen, ihre Emissionen in den nächsten acht Jahren um 50 Prozent zu reduzieren. Sherman hält solche Versprechen aber für ineffektiv. »Freiwillige Maßnahmen reichen nicht,« sagte sie vor dem US-Kongress und forderte stattdessen: »Gesundheitsversorger sind dazu verpflichtet, die Gesundheit zu schützen. Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen und uns ehrgeizige, wissenschaftlich fundierte Emissionsziele setzen, damit wir vor 2050 klimaneutral werden.«
Kochs Arbeitgeber, die Charité, ist derzeit dabei, die größten Problemfelder zu analysieren. »Im Vergleich zum Basisjahr 2016 konnten wir die CO2-Emissionen bereits um 21 Prozent reduzieren,« sagt Simon Batt-Nauerz, der bei der Charité sei Mai 2022 für Infrastruktur und Nachhaltigkeit zuständig ist. Sie liegen aber immer noch bei 105.000 Tonnen im Jahr, das entspricht etwa dem Jahreswert einer Kleinstadt mit 10.000 Einwohnern.
Interessanterweise spart der Nachhaltigkeitschef zuerst in den nicht-medizinischen Bereichen. Die 20.000 Mitarbeiter der Charité können unter anderem das Fahrradprogramm »Jobrad« in Anspruch nehmen und ihre Räder kostenlos in der Charité-eigenen Fahrradwerkstatt warten lassen. Weiteres Potential für CO2-Einsparungen sieht das Universitätsklinikum in der neuen medizinischen Mitarbeiterbekleidung. 8.000 Klinikmitarbeiter*innen werden bald in Kittel, Kasaks und Hosen aus organischem Tencel, einer Holzfaser aus regionalem Anbau, gekleidet statt des bisherigen Baumwoll-Polyester-Gemischs. Batt-Nauerz ist vor allem stolz darauf, im letzten Jahr 85 Tonnen Lebensmittelabfälle eingespart zu haben. Das entspricht etwa 216 Tonnen CO2. Er weiß aber auch: »70 Prozent der CO2-Emissionen entstehen in der Lieferkette.« Und eine weitere große Quelle ist der Energieverbrauch. Die Charité bezieht zwar Ökostrom, aber weil die drei Klinikstandorte teilweise denkmalgeschützt sind, würde eine Gebäudesanierung viele Millionen kosten.
Neubauten haben es da leichter: In Frankfurt entstand gerade die erste Passivhaus-Klinik der Welt, das Klinikum Höchst. Am 4. Februar sind die ersten Ärzte und Patienten eingezogen.