Das Problem: Für Muskeldystrophie gibt es bisher keine Therapie.
Die Lösung: Der Berliner Neurologin Simone Spuler ist es erstmals gelungen, von der Krankheit beschädigte Muskelzellen im Labor zu reparieren. Bald wird sie die neue Methode bei den ersten fünf Patienten einsetzen.
Wenn Martin Weber (Name geändert) die Straße zur Uni entlangläuft, fällt aufmerksamen Beobachtern vielleicht auf, dass er etwas steif geht. »Das liegt an der Wadenmuskulatur«, erklärt Weber. »Die lässt als erstes mit der Kraft nach.«
Als er 15 oder 16 war, merkte der inzwischen 19-Jährige zunächst nur, dass er beim Sprinten im Leichtathletiktraining langsamer wurde. Dann ging ihm bei Tennisturnieren früher als sonst die Puste aus. »Aber das war immer noch im Normalbereich. Ich war immer viel schneller als die anderen«, sagt der sportliche Jugendliche stolz. »Deshalb hat es eine Weile gedauert, bis es mir richtig aufgefallen ist.« Eine Blutanalyse ergab schließlich hundertfach erhöhte Leberwerte. Seine Eltern befürchteten Leberkrebs, bis ein einwöchiger Krankenhausaufenthalt und unzählige Tests die Diagnose brachten: Gliedergürtelmuskeldystrophie, eine genetisch bedingte Krankheit, bei der Muskeln langsam ihre Funktion verlieren.
Während Sie diesen Artikel lesen, benutzen Sie einige Muskeln, ohne es bewusst wahrzunehmen: Ihre Herzmuskeln pumpen Blut durch Ihre Adern; Ihre Augenmuskeln bewegen die Augen, um den Zeilen zu folgen; Ihre Hände halten Handy, Tablet oder Computermaus; und Ihre Rückenmuskeln ermöglichen Ihnen, aufrecht zu sitzen. Wir halten diese Leistung für selbstverständlich. 40 Prozent unseres Körpergewichts machen Muskeln aus, normalerweise haben wir 656 davon. Nun stellen Sie sich vor, Ihre Muskeln werden langsam schwächer. Kein Krafttraining, keine Proteindrinks können das verhindern.
Genau das ist die Situation, in der sich viele von Simone Spulers rund 2500 Patienten an der Berliner Charité befinden: Sie haben Muskeldystrophie, eine Krankheit, für die es bisher keine Heilung gibt. Mit ihrem Team von 20 Wissenschaftler*innen arbeitet Spuler daran, eine zu finden, denn für die meisten Patienten führt die Diagnose erst in den Rollstuhl und dann zu einem frühen Tod.
Knapp 300.000 Menschen sind allein in Deutschland von verschiedenen Formen der Muskeldystrophie betroffen, der jüngste Patient ist kaum ein Jahr alt
Im Frühjahr 2022 fuhr Martin Weber mit seinen Eltern zu Spulers Muskel-Ambulanz nach Berlin. Dort wurden ihm Muskelzellen am linken Oberarm entnommen. Er zeigt die drei Zentimeter lange Narbe knapp unter der Schulter. Im Labor war Spulers Team bereits 2019 zum ersten Mal ein weltweit einmaliger Durchbruch gelungen: Mit der Genschere CRISPR reparierte sie die Muskeldystrophie in Muskelstammzellen von Patienten. »Es ist nur ein einziges kleines Molekül, das da nicht richtig funktioniert, und das kann ausgetauscht werden«, erklärt Spuler. »Wir haben jetzt die Möglichkeit, mit der Genschere bestimmte Mutationen wieder zu reparieren. Echte Magie ist das!« Knapp 300.000 Menschen sind allein in Deutschland von verschiedenen Formen der Muskeldystrophie betroffen, der jüngste Patient ist kaum ein Jahr alt.
Martin Weber wird der jüngste Teilnehmer sein, wenn Simone Spuler im nächsten Jahr mit der ersten klinischen Studie beginnt. Dass Webers Muskelzellen im Reagenzglas gut auf die Korrektur ansprechen, weiß sie schon. Nun kommt 2023 die Probe aufs Exempel: Wird der Körper die korrigierten Zellen annehmen? Werden sie sich wie erhofft im Muskel vermehren und die Aufgaben der kranken Zellen übernehmen?
Simone Spuler strahlt eine mütterliche Wärme und gleichzeitig professionelle Ruhe und Seriosität aus, bei der man sich sofort aufgehoben fühlt. Diese Eigenschaften braucht die 60 Jahre alte Neurologin auch in ihrem Job. Den ganzen Tag über kommen Menschen zu ihr in die Ambulanz, die fast alle die Diagnose Muskeldystrophie erhalten haben. »Außer Physiotherapie kann man da im Augenblick nichts machen«, sagt Spuler in ihrer pragmatischen und doch sehr freundlichen Art. Sie will bei ihren Patienten keine falschen Hoffnungen schüren – und trotzdem nicht aufgeben. Die meisten Patienten sind noch jung, wenn sie die Diagnose bekommen und die damit verbundene Prognose: Langsam werden die Muskeln immer schwächer, auch die, die man zum Gehen, Greifen oder Atmen braucht.
Die Tatsache, dass es keine Therapie gibt, interessierte Spuler schon zu Beginn ihrer Medizinkarriere, als sie am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried die ersten Muskeldystrophie-Patienten betreute: »Ich wusste, da habe ich jetzt 30, 40 Jahre Zeit, was zu finden.« Spuler war schon früh von Muskeln fasziniert. Davon, wie schön Muskelstränge sind, schwärmt sie wie andere von einem fantastischen Matisse-Bild. »Wenn man sich Muskelschnitte anguckt und die färbt, ist das auch unter dem künstlerischen Aspekt ästhetisch wunderschön!«
Die CRISPR/Cas9-Technik, mit der gezielte Eingriffe in die DNA möglich sind, ist noch relativ jung, hat sich seit der Entdeckung aber schon massiv weiterentwickelt. Die französische Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier, die 2020 mit ihrer amerikanischen Kollegin Jennifer Doudna den Nobelpreis für ihre Arbeit an CRISPR bekam, forscht seit 2015 ebenfalls in Berlin. »Mit Emmanuelle bin ich schon einige Stunden im Fiat 500 durch Berlin gegurkt«, erzählt Spuler und schwärmt von der Kollegin, »so bescheiden, so klug, einfach super.«
Spuler studierte bei den renommiertesten Medizinern ihres Faches: Schon als Postdoktorandin verbrachte sie ein paar Jahre in Amerika, unter anderem an der University of California San Diego, in Harvard und am Johns-Hopkins-Institut. 1995 gingen sie und ihr Mann, ein Neurochirurg, für einige Jahre nach Rochester, an die Mayo-Klinik. »Irre gut, best of the best«, sagt sie heute noch über ihre Lehrjahre an der weltberühmten Klinik, die als eine von Nordamerikas medizinischen Top-Adressen gilt. An der Charité bot man ihr schließlich die Chance, ab 2005 mit inzwischen knapp 25 Mitarbeiter*innen die Ambulanz Muskelschwäche als Teil des »Experimental and Clinical Research Center« (ECRC) aufzubauen, einer Kooperation der Charité-Universitätsmedizin Berlin und des Max Delbrück Center für Molekulare Medizin in der Helmholtz Gesellschaft.
Anstatt wie zu Beginn, als die CRISPR-Technik erstmals vorgestellt wurde, die DNA durchzuschneiden, nutzt Spuler unter anderem den sogenannten Base-Editor, um wie mit einer (superfeinen) Schere oder Pinzette ein Molekül zu reparieren. Inzwischen hat sie die Sicherheitsprüfungen hinter sich und die knapp vier Millionen Euro, die an Finanzierung benötigt werden, fast zusammen, um im nächsten Jahr die neue Methode an den ersten fünf Patienten mit Gliedergürtel-Muskeldystrophie auszuprobieren. »Wir fangen mit einem Muskel an, den wir gut messen können, vielleicht dem Bizeps«, erklärt Spuler. Sie will ihren Patienten die kranken Zellen entnehmen, sie reparieren und dann die reparierten Zellen wieder injizieren. Der Aufwand ist enorm und die Prozedur sehr teuer. »Die größte Herausforderung ist mit Sicherheit, dass man dem Patienten nicht schaden möchte«, sagt Spuler. »Bei jedem Patienten muss das gesamte Genom durchgescannt werden, um sicherzugehen, dass wir nicht aus Versehen ein wichtiges Gen schädigen, oder – wie wir sagen – ausknocken.«
Martin Weber wird aller Voraussicht nach einer dieser fünf Patienten sein. Er ist zuversichtlich, »dass da relativ wenig schiefgehen kann, denn die Methode wird ja erstmal nur an einem Muskel ausprobiert. Im schlimmsten Fall funktioniert’s nicht. Im besten Fall funktioniert der Muskel wieder besser, das wäre schon cool«.
Weber studiert inzwischen selbst Biologie, auch wegen der Begegnung mit den Ärztinnen an der Charité, die ihn schwer beeindruckt haben. »Die Ärztin, die meine Zellen analysiert, ist Molekularbiologin«, erzählt er. »Das will ich auch machen.« Weber ist ein kluger, eloquenter Student, der sich alles zum Thema CRISPR angelesen hat und der die Prozedur, die ihm hoffentlich helfen wird, gut erklären kann. »Bei meiner spezifischen Erkrankung ist eine Base in dem DNA-Strang fehlerhaft«, sagt er. »Das kann man bei mir rausschneiden, und das Schöne ist, dass der Körper dann ein Selbst-Reparatur-Programm an der DNA hochfährt und sich mit einer ziemlich hohen Effizienz selbst die richtige Base wieder einsetzt.«
Martin Weber hat noch drei gesunde Geschwister. »Das ist die Statistik«, erklärt der angehende Biologe. »Man kriegt ja von jedem Elternteil zwei Gensätze mit, und es müssen zwei kranke Mutationen dabei sein, damit man Muskeldystrophie bekommt. Da liegen wir genau in der Statistik: Einer von uns vier Kindern hat die Mutation geerbt.«
Es waren die Eltern, die auf Spulers Forschung aufmerksam wurden. Annette und Hans Weber sind beide wissenschaftlich denkende, engagierte Menschen – sie lehrt an einer Fachhochschule, er ist gelernter Physiker. Ein chronisch kranker Sohn bedeutet für die Mutter fast einen Vollzeit-Job, auch wenn er nicht mehr zuhause wohnt, denn die Kämpfe mit der Krankenkasse sind zäh. Wie so viele Eltern chronisch kranker Kinder erzählen die Webers von zeitraubenden Anrufen und Briefwechseln mit der Krankenkasse. »Die nehmen keine Rücksicht auf gar nichts«, sagt Martin Weber. »Obwohl ich der Krankenversicherung zuvor nie große Unkosten verursacht habe und die Berliner Studie ohnehin aus öffentlichen Forschungsgeldern und von einer Stiftung finanziert wird, kriege ich nicht mal Einlagen von der Krankenversicherung, ohne dass man das dreimal einklagt.« Seine Mutter bezeichnet sich als »Profi im Widerspruch schreiben. Selbst die Physiotherapie bekamen wir nur unter vehementem Druck genehmigt. Das ist jedes Mal ein Riesenakt«. Dabei ist sie doch die einzige Therapie, die derzeit möglich ist und hilft Weber »am allermeisten. Der Therapeut trainiert ganz gezielt die Muskeln, die am meisten betroffen sind«, sagt sie.
Ansonsten sitzt Martin Weber gerne beim Gamen und macht auch weiterhin so viel Sport wie möglich. Radfahren fällt ihm nicht mehr so leicht, deshalb fährt er mit dem E-Scooter zur Uni. Tennisturniere absolviert er nicht mehr, weil er keine zwei Stunden durchhält, aber eine Dreiviertel Stunde Match geht noch. Snowboarden? Schwierig. Dazu braucht er genau die Rückenmuskeln, die ihm am meisten Schwierigkeiten bereiten. Dann eben mehr Tischtennis, Poker und Modellbau. Martin Webers beste Freunde wissen Bescheid über seine Diagnose und helfen ihm, »zum Beispiel dabei, schwere Sachen aufzuheben. Das kann ich nicht mehr so gut«.
»Es wäre schon ein großer Schritt vorwärts, wenn ein kleiner Muskel, der zum Greifen oder Schlucken wichtig ist, wieder funktioniert«
Simone Spuler
Umso glücklicher ist die Familie darüber, dass sie exzellente medizinische Unterstützung gefunden hat – erst am Münchner Muskelzentrum der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) und dann bei Spulers Muskelambulanz in Berlin. »Wenn man erstmal versteht, dass es eine progressive Erkrankung ist und es keine Chance auf Heilung gibt, macht einen das natürlich fertig,« sagt Annette Weber. »Und dann ist da auf einmal diese Frau, die den wissenschaftlichen Fortschritt als Chance sieht, das ist Wahnsinn. Alleine, dass wir die Möglichkeit haben, bei der Studie dabei zu sein, das ist einfach absolut großartig.«
Spuler will bei ihren Patienten keine unrealistischen Erwartungen schüren, aber gleichzeitig hofft sie selbst, mit der neuen Methode eine echte Lösung gefunden zu haben: »Patienten, die im Rollstuhl sitzen, werden nicht plötzlich aufstehen und wieder laufen können«, schränkt sie ein. Sie setzt die Genschere schließlich anfangs bei nur einem Muskel ein, »aber es wäre schon ein großer Schritt vorwärts, wenn ein kleiner Muskel, der zum Greifen oder Schlucken wichtig ist, wieder funktioniert.« Martin Weber stimmt ihr zu: »Ich verstehe, dass ich bestimmt nicht 100 Prozent meiner Muskelkraft zurückbekomme, aber eine kleine Steigerung oder zumindest, dass es nicht mehr schlimmer wird, ist das Ziel.« Wenn alles gut geht, könnte es sogar immerhin sein, dass Martin Weber in zehn Jahren selbst im Labor steht und die Biopsien einer nächsten Generation von Dystrophie-Patienten analysiert.
Spuler verfolgt die Vision, dass man das Editieren der Gene irgendwann auch auf den ganzen Körper der Patienten anwenden könnte. Um die Forschung zu beschleunigen, hat sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Verena Schöwel-Wolf die Firma Myopax gegründet. »Damit können wir«, sagt Schöwel-Wolf, »von der Forschung auf die Autobahn gehen.«
Dass sich für Spulers Forschung viele auch internationale Investoren und Institute interessieren, liegt auch daran, dass sich die Technik an sich auch für andere Krankheiten einsetzen ließe, wenn man einmal bewiesen hat, dass der Körper die reparierten Zellen annimmt. Gerade ist sie nach zwei Jahren mühsamer Vorarbeit eine Partnerschaft mit einem großen Pharma-Unternehmen eingegangen, AmpTec/Merck, das sie in ihrer Forschung unterstützen wird. »Das ist ein großer Durchbruch«, sagt Spuler, »denn Big Pharma für Muskeldystrophie zu begeistern, ist nicht selbstverständlich.« Auch die ForTa gGmbH für Forschungstransfer der Else Kröner-Fresenius-Stiftung fördert ihr Projekt.
Wenn Spuler so freundlich durch ihre goldgerahmte Brille guckt, will sie gleichzeitig den Leuten die Angst vor Gentechnik nehmen. »Wenn man das Wort Genschere in den Mund nimmt, zucken viele schon zusammen und sagen, Oh nein, der Körper ist das Werk Gottes.« Spuler will sich da eher als Reparierende verstanden wissen: »Nee, wir tauschen wirklich einfach ein Molekül aus. Nix Werk Gottes!«