Das Problem: Jede Woche werden in Deutschland etwa 300 Kinder missbraucht. Das ist die Zahl der registrierten Staftaten, aber die Dunkelziffer liegt vermutlich um ein Vielfaches höher.
Die Lösung: Ein unbürokratischer Weg, wie Kinder ihr Herz ausschütten können, und ein professionelles Team, das Hinweisen auf Gewalt nachgeht.
Als die Leiterin einer dörflichen Grundschule im Osten Frankreichs von Kummerkästen für ihre Schüler hörte, fand sie, das sei ein nettes Projekt. Kinder könnten sich alles von der Seele schreiben, was sie bedrückt, hatte der Initiator Laurent Boyet über die Idee gesagt, ein weißer Briefkasten in der Schulkantine sei extra dafür da und würde jeden Tag geleert. Ein Team aus Psycholog*innen, Pädagog*innen und gegebenenfalls der Polizei würde die Briefe lesen und sich um Lösungen für die geschilderten Probleme bemühen. »Ich dachte, dass es an meiner Schule keine größeren Probleme gibt, die ich nicht kannte«, sagte die Schulleiterin der Associated Press. Doch gleich am ersten Morgen, an dem der Briefkasten in der Schulkantine hing, warf ein zehnjähriges Mädchen einen Brief ein. In kindlicher Sprache beschrieb sie, dass ihr Großvater sein »unteres Teil« in ihr »unteres Teil« steckte.
»Gegen Mittag hatten wir den Brief. Bis nachmittags um vier Uhr hatten wir einen Plan«, erzählt Laurent Boyet via Video-Telefonat aus seinem Haus in Südfrankreich. »Am Dienstag sprach eine geschulte Psychologin mit dem Mädchen.« Es stellte sich heraus, dass der Großvater nicht nur seine Enkelin, sondern auch zwei minderjährige Cousinen regelmäßig vergewaltigte. »Am Mittwoch wurde er verhaftet. Es dauerte genau fünf Tage vom Brief bis zur Verhaftung. Der Mann sitzt bis heute in Untersuchungshaft und wartet auf seinen Prozess«, sagt Boyet.
Hauptberuflich ist Laurent Boyet Polizist und leitet die Polizeistation im südfranzösischen Touristenort Perpignan. Daneben ist er Gründer der Initiative Les Papillons, also »Die Schmetterlinge«, und hat seit dem Frühjahr 2020 mehr als 220 weiße Kummerkästen an Schulen und Sportklubs aufgestellt. Über 60.000 Kinder erreicht er damit, mehr als 2000 Briefe hat seine gemeinnützige Organisation so schon erhalten. Aber der Hintergrund für diese Aktion ist kein beruflicher, sondern ein privater.
»Ich wurde als Sechsjähriger von meinem zehn Jahre älteren Bruder vergewaltigt«, berichtet Boyet, 49. »Drei Jahre lang hat er mich immer wieder vergewaltigt, und es gab absolut niemandem, mit dem ich darüber reden konnte.« Sein Bruder habe ihm gedroht, er werde ihn umbringen, wenn er jemandem davon erzähle. Also vertraute sich der Junge allein seinem Tagebuch an, schrieb sich die Details des Missbrauchs von der Seele. Erst 30 Jahre später fand er den Mut, darüber zu sprechen. »Meine Familie reagierte wie die meisten: Sie wollte nichts mehr mit mir zu tun haben und verstieß mich«, sagt Boyet. Seine Mutter, die inzwischen verstorben ist, habe ihm gesagt, sie glaube ihm, weil sie damals schon einen Verdacht gehegt hatte, aber seine drei Schwestern brachen den Kontakt ab.
2017 veröffentlichte Boyet ein Buch über seine Kindheit unter dem Titel Alle Brüder machen das – ein Satz des Bruders, der sich ihm besonders einbrannte. Er beteiligte sich auch an der #MeTooInceste-Diskussion, der landesweiten Debatte um Kindesmissbrauch in der Familie, die die französische Juristin Camille Kouchner Anfang 2021 mit ihrem Buch La familia grande angestoßen hatte; darin warf sie ihrem prominenten Stiefvater vor, ihren Zwillingsbruder jahrelang missbraucht zu haben.
Was an Boyet nagt, ist die hohe Dunkelziffer. Die offiziellen Zahlen gleichen sich in Deutschland und in Frankreich. 2021 stiegen die registrierten Straftaten von sexuellem Kindesmissbrauch in Deutschland um 6,3 Prozent auf über 15.500 Fälle. Aber die Experten sind sich einig, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher ist. Laut der Weltgesundheitsorganisation wurden jede fünfte Frau und jeder 13. Mann in ihrer Kindheit missbraucht. Boyet geht davon aus, dass in Frankeich jedes Jahr mehr als 165.000 Kinder sexualisierte Gewalt erleiden müssen. »Ein Kind alle drei Minuten, zwei Kinder in jeder Klasse«, sagt Boyet, um die Zahl zu veranschaulichen. »Und die meisten Kinder trauen sich nicht, darüber zu sprechen. Wie ich damals.«
So kam er auf das Motto, das nun auf jedem seiner Briefkästen steht: »Schreib, was du nicht sagen kannst.« Bevor er und sein Team die Briefkästen installieren, gehen sie persönlich in die Schulen, um sich und ihr Projekt vorzustellen und die Kinder dazu aufzurufen, die Briefe mit ihrem Namen zu unterzeichnen, damit ihnen geholfen werden kann. »Das Beste an der Methode ist, dass Kinder in eigenen Worten ungefiltert beschreiben, was sie bedrückt«, sagt Boyet. »Ohne dass es von Erwachsenen beeinflusst wird.«
Die Organisation heißt »Die Schmetterlinge«, weil eines der Missbrauchsopfer, die heute neunjährige Lily, die im Alter von vier Jahren von ihrem Großvater missbraucht wurde, davon sprach, wie sehr sie Schmetterlinge möge – weil sie bunt seien und frei davon fliegen können. »Schmetterlinge sind Teil des kindlichen Vorstellungswelt«, sagt Boyet. »Das hat mir sofort so gut gefallen, dass ich unsere Organisation danach benannte.«
13 Prozent der Briefe, die ihn und sein Team auf diese Weise erreichen, betreffen Mobbing an der Schule. 21 Prozent der Briefeschreiber berichten von körperlichen Misshandlungen und sieben Prozent von sexualisierter Gewalt. 30 Prozent der Gewalt, von der Schüler schreiben, geschehe innerhalb der Familie und 70 Prozent davon beträfen Mädchen, weiß Boyet. Nur zwei Prozent der Briefe seien Unfug, erzählt Boyet, »und im Zweifel, wenn wir uns nicht sicher sind, ob ein Kind es ernst meint, gehen wir dem nach. Lieber einmal zu viel als zu wenig.«
Er arbeitet mit den Bürgermeister*innen in den jeweiligen Gemeinden, um ein Netzwerk aufzubauen, »damit Kinder lernen, dass es Erwachsene gibt, denen sie vertrauen können«. Wenn Kinder über Mobbing oder Vorfälle an der Schule klagen, intervenieren geschulte Pädagogen. »Durch die Briefe verfolgen wir dann weiter, ob das Problem bestehen bleibt oder gelöst wurde.«
Mehr als die Hälfte der Briefe kommt laut Boyet von Acht- und Neunjährigen, 15 Prozent von Sechs- und Siebenjährigen. »Das sind genau die Kinder, die ich am meisten erreichen möchte«, sagt Boyet. Das liege nicht nur an seiner eigenen Biografie: »In Frankreich gibt es eine nationale Hotline für missbrauchte Kinder, aber Kinder unter neun Jahren haben meist noch kein eigenes Handy und haben es nicht leicht, ein unbeobachtetes Telefongespräch zu führen. Aber einen Brief schreiben kann jeder.«
Manche Kinder zeichnen auch, statt etwas zu schreiben. Jüngst habe ein Kind in der südfranzösischen Kleinstadt Toulon gleich nachdem ein Briefkasten installiert worden war, ein Bild eingeworfen. »Darin zeigte ein oranger Blitz vom Unterleib eines Erwachsenen auf den Unterleib eines Kindes. Dem sind wir sofort nachgegangen«, erzählt Boyet – noch ein Fall, in dem sein Team akuten Missbrauch verhindern konnte. Etwa fünf Prozent der Briefe berichten von schwerer Gewalt, sagt Boyet, und zwei Prozent kämen von Kindern, die sich in akuter Gefahr befänden.
Gleichzeitig setzt er sich aktiv für weitere Gesetzesänderungen in Frankreich ein. So tritt er dafür ein, das Verjährungsdatum für Kindesmissbrauch abzuschaffen, weil viele Opfer – so wie er – erst Jahrzehnte später darüber sprechen können, was ihnen widerfahren ist. Außerdem arbeitet er daran, ein Schutzhaus aufzubauen, in dem sich Kinder von Gewalterfahrungen erholen können, das »Schmetterlingshaus«. Das sei ein enorm großes Projekt, meint er, »aber wir können nicht mehr so tun, als gehe uns Kindesmissbrauch nichts an. Wir müssen aktiv werden.«
Was ein nächster Schritt wäre: Nachahmer der Schmetterlings-Kummerkästen in anderen Ländern.
Bei Fragen und anderen Anliegen zu sexuellem Kindesmissbrauch kann man sich in Deutschland kostenfrei und anonym unter der Nummer 0800 22 55 530 an das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch wenden; montags, mittwochs und freitags von 9.00 bis 14.00 Uhr sowie dienstags und donnerstags von 15.00 bis 20.00 Uhr. Es dient als Anlaufstelle für Menschen, die Beratung und Unterstützung suchen, die sich um ein Kind sorgen, die einen Verdacht oder ein »komisches Gefühl« haben, die unsicher sind und Fragen zum Thema stellen möchten.