Kann man lernen, glücklich zu sein?

Seit vergangenen Herbst gibt es an Braunschweiger Schulen »Glücksunterricht«. Unsere Lösungskolumnistin erklärt, wie die Stunden ablaufen und welche Methoden dabei helfen, das Wohlbefinden der Kinder (und auch ihrer Lehrer) zu steigern.

Auf die Blumen in ihrem »Gefühlsgarten« schreiben Braunschweiger Viertklässlerinnen und Viertklässler, worüber sie gerade glücklich sind. Und in ihrem Rucksack nehmen sie schöne Ereignisse mit ins Leben.

Fotos: Privat

Das Problem: Die Corona-Pandemie hat bei Kindern und Jugendlichen zu einem deutlichen Anstieg psychischer Probleme wie Depressionen, Angst- und Schlafstörungen geführt.
Die Lösung: Glücksunterricht in der Schule, in dem Kindern beigebracht wird, über Gefühle zu reden, Dankbarkeit zu empfinden und ihre Emotionen zu verstehen und zu regulieren.

An einer Grundschule in Braunschweig pflanzen die Schülerinnen und Schüler einer vierten Klasse einen »Gefühlsgarten«. Nacheinander treten sie vor die Klasse, in der Hand eine gelbe oder orangefarbene Papierblume, auf der sie notiert haben, was sie an diesem Morgen bereits glücklich gemacht hat. »Dass ich meinen Hund gesehen und mit ihm gekuschelt habe«, sagt ein Mädchen dem NDR, der die Szene für einen TV-Bericht filmen durfte. »Ich habe heute einen Euro gefunden«, ruft ein Junge. »Mein Papa hat heute morgen mit mir gekuschelt«, sagt ein anderer.

Seit November vergangenen Jahres steht in 16 Braunschweiger Grundschulen Glücksunterricht auf dem Stundenplan, angeleitet von Lehramtsstudenten der TU Braunschweig. Aber was ist Glück überhaupt? Und warum soll man das in der Schule lernen? »Glück ist subjektives Wohlbefinden,« erklärt der Glücksforscher Tobias Rahm, der an der TU Braunschweig zum Thema Glücksunterricht promoviert und das Braunschweiger Projekt leitet. »Was brauchen Kinder wirklich? Brauchen die Mathe?«, fragt er provokant. Für Rahm steht fest, dass Eltern in der Regel das Beste für ihre Kinder wollen, wozu auch gehört, dass die Kinder glücklich durchs Leben gehen können. »Dafür gibt es Kompetenzen, die man strukturiert vermitteln kann«, sagt der Forscher. »Zum Beispiel Emotionsregulierung, aber auch, sich über schöne Sachen freuen und Dankbarkeit und Hilfsbereitschaft empfinden zu können. Wenn man das alles trainieren kann, dann sollte man das in der Schule tun – weil es zu einem besser gelingenden Leben beiträgt.«

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Carina Mathes und Tobias Rahm leiten das Braunschweiger »GlüGS«-Projekt – die Abkürzung steht für »Glücksunterricht an Grundschulen«.

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Den Lehrplan für das Braunschweiger Projekt hat Carina Mathes erstellt, die eigentlich ausgebildete Logopädin ist. Die Glücksforschung entdeckte sie vor 15 Jahren eher durch Zufall, als sie einen Artikel über Martin Seligman las, den Vordenker der sogenannten Positiven Psychologie. »Bis dahin wusste ich nicht, dass man Glück lernen kann«, sagt Mathes. »Ich dachte, man ist entweder glücklich oder nicht.« Sie vertiefte sich in die Forschung und veröffentlichte 2016 die beiden Bände des Curriculum Schulfach Glückskompetenz. Ziel ist, die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf eine Art im Unterricht zu vermitteln, die den Schülerinnen und Schülern Spaß macht und aus der sie dauerhaften Nutzen ziehen.

In bayerischen Schulen stand Glück im Rahmen eines Pilotprojekts zum ersten Mal 2013 auf dem Stundenplan; in Indien, wo mehr als eine Million Kinder täglich das Glück lernen, kam zum Start des Unterrichts sogar der Dalai Lama vorbei; und in einem australischen Vorzeigeprojekt, der Geelong Grammar School, bekommen die Kinder von der ersten Klasse bis zum Ende ihrer Schulzeit jede Woche zwei Stunden Unterricht in Sachen Wohlbefinden, Emotionsregulierung und Sinnerleben. Am bekanntesten ist in dieser Hinsicht in Deutschland das gemeinnützige Fritz-Schubert-Institut, das seit 2009 knapp 2000 glückskompetente Lehrer ausgebildet hat, die das Thema meist als Wahlfach lehren.

Studien über solche Projekte kommen bisher zu ermutigenden Ergebnissen: Die Kinder berichten von mehr Wohlbefinden und Selbstvertrauen, außerdem kommt es in den Klassen seltener zu Konflikten und die Schüler sagen, sie lernten leichter. Auch Tobias Rahm will den Braunschweiger Unterrichts wissenschaftlich begleiten und auswerten. Soviel kann er schon verraten: »Die ersten Vorergebnisse sind positiv.« Schülerinnen und Schüler kreuzten in Fragebögen zum Beispiel öfter »In der letzten Woche mochte ich mich selbst leiden« an und seltener »In der letzten Woche war ich oft schlecht gelaunt«. Auch von den Eltern bekomme er positive Rückmeldungen, sagt Rahm. Glücksfaktoren seien für die Kinder vor allem die Familie, Haustiere, Freunde und Hobbys. »Auch die Großeltern werden sehr, sehr oft genannt«, hat Mathes beobachtet. »Materielle Sachen dagegen kommen kaum vor, mal das eine oder andere Computerspiel, aber das ist echt selten.«

Eine noch unbeantwortete Frage ist, ob Glücksunterricht auch die Resilienz der Schüler steigert, also ihre Fähigkeit, mit Enttäuschungen und schwierigen Lebensereignissen umzugehen. Der Bedarf dafür ist hoch: Die COH-FIT Studie, eine groß angelegte, internationale Studie über die psychischen Folgen der Corona-Pandemie, zeigte eine deutliche Zunahme von psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen im Vergleich zum Vorpandemiejahr. In den USA sagten 2021 mehr als ein Drittel der Schüler, ihr Wohlbefinden habe sich während der Pandemie verschlechtert und 44 Prozent beschrieben sich als ständig traurig oder hoffnungslos.

So sieht der »Gefühlsgarten« aus, wenn eine ganze Klasse ihre Blumen hineingepflanzt hat.

Rahm hat Resilienzfaktoren bisher nicht spezifisch erfasst, er hörte aber oft von den Lehrkräften, wie toll es sei, dass das Programm gerade jetzt umgesetzt werde, nach den besonders anstrengenden Pandemiejahren. »Wir haben dadurch, dass vorher zwei Jahre Pandemie waren, noch viel mehr offene Türen eingerannt. Lehrer wie Eltern haben noch viel mehr gesellschaftlichen Nutzen darin gesehen, dass so was jetzt gemacht wird.«

Rahm und Mathes, die beide selbst Eltern von Grundschulkindern sind, betonen, »dass alle Gefühle wichtig sind und alle ihre Aufgaben haben, auch die negativen«. Positive Psychologie werde oft als »positives Denken« missverstanden, meint Mathes, »dabei geht es eher darum, mit den eigenen Gefühlen wirklich in Kontakt zu sein und sie angemessen auszudrücken«. Mathes hat Wohlbefinden für sich so definiert hat, dass das Gefühl zum Erlebten passt. »Wenn ich auf eine Beerdigung gehe, empfinde ich Trauer. Das gehört dann dahin.« Besonders bemerkenswert findet sie, dass die Kinder oft selbst mit Lösungsvorschlägen aufwarten, wenn ein Kind etwas Trauriges in die Klasse trägt, zum Beispiel, dass der Opa gestorben ist. »Die anderen Kinder trösten dann und ein Mädchen sagt: Ich habe meinem Opa nochmal einen Brief geschrieben, das hat mir geholfen.«

Zum Glücksunterricht gehört auch, den Kindern in altersgerechter Sprache zu erklären, »wie das Gehirn funktioniert und warum es Sinn macht, schon frühzeitig auf die angenehmen Dinge und Gefühle zu fokussieren«, wie Mathes sagt. Dahinter steht die Idee der Neuroplastizität, denn so wie man durch regelmäßiges Üben lernt,  besser Klavier zu spielen, kann man auch Glück einüben. Kinder lernen zum Beispiel anhand des Faltens eines Papierfliegers, dass Faltlinien immer tiefer werden, je öfter man das Papier an dieser Stelle faltet. Genauso trainiere man laut Mathes die für’s Wohlempfinden zuständigen Nervenbahnen, wenn man sich auf positive Erlebnisse konzentriert.

Interessanterweise profitieren nicht nur die Kinder vom Glücksunterricht, sondern auch die Lehrkräfte. »Wenn ich mir die ganzen neurobiologischen Hintergründe durchlese, lerne ich die selbst auch kennen und da bleibt automatisch was hängen«, meint Mathes. Rahm hofft sogar, dass die Glückskompetenz dazu beitragen könne, den Reiz des Lehrberufs zu steigern. »Wir haben Lehrermangel«, sagt er. »Alles, was den Beruf attraktiver macht, halte ich für eine sehr wertvolle Maßnahme.«

Rahm bildet in erster Linie Lehramtsstudierende aus, sprang aber auch selbst schon als Lehrer beim Glücksunterricht ein. Einmal bastelte er mit den Kindern »Dankbarkeitsketten« aus Papier, auf das die Schüler schrieben, wofür oder für wen sie dankbar waren. Die Dankbarkeitsübung ist ohnehin eine seiner Lieblingsübungen, die er Lehrern wie Schülern gern beibringt. Robert Emmons, Professor an der University of California, Davis, wies nach, dass das regelmäßige Ausdrücken von Dankbarkeit zu besseren Noten, besserem Schlaf und größerem Wohlbefinden führt.

So soll der Glücksunterricht den Kindern eine Ausrüstung fürs Wohlbefinden mitgeben. Die Kinder packen buchstäblich einen Rucksack »fürs Leben« und sammeln darin alle angenehmen Dinge. Was war heute gut am Tag? Wofür bin ich dankbar? Was gefällt mir gut? »Die Kinder achten jetzt im Alltag mehr darauf, was eigentlich gerade schön ist«, sagt Mathes. »Denn es gibt immer etwas, das gerade gut ist oder wofür man dankbar sein kann.«  Besonders freuen sich die beiden Architekten des Programms, dass bei vielen Kindern eine Sache auf der Liste der Glücksfaktoren ganz oben steht: der Glücksunterricht selbst.