Dass Carsten Israel inzwischen mehr als 400 Menschenleben gerettet hat, geht ursprünglich auf eine Liebesgeschichte zurück. Als junger Arzt verliebte er sich in Frankfurt nämlich in eine Kenianerin, Elisabeth, mit der er inzwischen seit 13 Jahren verheiratet ist und drei Kinder hat. Als er einmal mit ihr nach Kenia flog, um die Verwandten in der Nähe von Nairobi zu besuchen, nahm er aus beruflicher Neugierde die Krankenhäuser dort in Augenschein. »Ich war völlig entsetzt«, sagt der inzwischen 55 Jahre alte Kardiologe und Chefarzt der Klinik für Innere Medizin in Bielefeld. »Oft ist in der Notaufnahme gar kein Arzt da, nur eine Krankenschwester, die bestenfalls ein paar Verbände machen kann. Wenn jemand ins Koma fällt, fällt der halt ins Koma. Es gab nicht mal einen Defibrillator.« Defibrillatoren, also Schockgeber, gehören in allen deutschen Kliniken zur Standardausstattung, um Patientinnen und Patienten bei Herzstillstand wiederzubeleben. Im größten und modernsten Krankenhaus Nairobis fand Israel zwar eine bessere Ausstattung vor, »aber nur für zahlende Bürger«. Der dortige Kardiologe hatte einen Stapel Hilfsgesuche von Herzkranken in der Schublade, denn ein Herzschrittmacher kostete damals in Kenia um die 5000 Dollar. Bei einem Durchschnittseinkommen von etwa 600 Dollar im Monat war eine solche Operation also für die meisten Kenianer unerschwinglich.
Deshalb fliegt Israel ein bis zwei Mal im Jahr mit einem Team von zwei Ärzten und zwei Krankenschwestern auf eigene Kosten nach Kenia (und seit einigen Jahren auch nach Sambia), um dort kostenlos deutsche Herzschrittmacher einzusetzen. Der Clou: Viele der Herzschrittmacher und Defibrillatoren, die er verwendet, wären in Deutschland weggeworfen worde. Ausgerechnet als er von seiner ersten Kenia-Reise nach Deutschland zurückkehrte, belehrte ihn ein Handelsvertreter, er solle ein Auge haben auf die vorrätigen Defibrillatoren, damit das Haltbarkeitsdatum nicht ablaufe. »Die Hersteller sammeln die Geräte nach dem Ablaufdatum ein und schicken die zu einer Firma, die sie kostenpflichtig zerstört«, erklärt Israel.
Israel operiert an der Bruchstelle zwischen der Realität in einem wohlhabenden Land wie Deutschland und einem armen wie Kenia. Er ist damit ein seltenes Beispiel, was ein Einzelner bewirken kann, wenn er die Regeln eines Landes gegen die Wirklichkeit in einem anderen ausspielt. »So ein Defi kostete damals 24.000 Euro«, erklärt Israel. »Wenn der seit einem Tag abgelaufen ist, ist das bei uns kein zugelassenes Medizinprodukt mehr. Wenn ich den einem Patienten einsetze, komme ich ins Kittchen.« Formal möge das Sinn ergeben, meint Israel, »aber inhaltlich ist das doch Schwachsinn, wenn 90 Prozent der Bevölkerung in Afrika den niemals bekommen können, weil er völlig unerschwinglich ist«.
Carsten Israel ist ein warmer, gesprächiger Arzt, der richtig in Fahrt kommt, wenn er über seine Patientinnen und Patienten redet. Viele von ihnen haben sogar seine Handynummer und rufen ihn an, wenn es ihnen besonders prächtig oder besonders schlecht geht. Seit 2003 sammelt er Herzschrittmacher- und Defibrillator-Spenden von Herstellern, aber auch von Bestattern und anderen Ärzten. Die Geräte, die er nach Ostafrika mitnehme, seien »vielleicht nicht das Neueste vom Neuesten, aber immer noch sehr gut«. Es komme »auch immer wieder vor, dass wir einem Patienten in Deutschland einen Herzschrittmacher einsetzen und nach fünf Monaten feststellen, dass er einen Dreikammer-Herzschrittmacher oder -Defibrillator braucht. Dann ersetzen wir den, und der erste müsste in Deutschland entsorgt werden, dabei läuft der noch bis zu 15 Jahre. Die meisten Geräte überleben ihre Trägerinnen und Träger.« Israel kann die gebrauchten Geräte entkeimen und implantieren. Studien belegen, dass gebrauchte Herzschrittmacher für ihre Zweitbesitzer kein größeres Risiko bedeuten als neue.
Ein Handelsvertreter habe ihm mal vorgeworfen, es sei rassistisch, die ausrangierten Herzschrittmacher, die man in Deutschland nicht mehr brauche, in Afrika einzusetzen. Solchen Kritikern hält Israel die Geschichten entgegen, die er vor Ort in Kenia erlebt. Denn in Ostafrika sterben vier Mal so viele Menschen an Herzschwäche wie in Europa. Gleich bei seinem ersten medizinischen Besuch in Nairobi, den er mit einem dortigen Kardiologen organisierte, warteten sechs Patienten auf ihn. »Bei uns wären die alle Kandidaten für eine Notfall-Implantation gewesen«, sagt Israel kopfschüttelnd. Eine blinde Großmutter, etwa 80 Jahre alt, habe einen Puls von 18 gehabt. »Sowas habe ich in Deutschland überhaupt noch nie gesehen!«, sagt Israel. »Alle drei Sekunden ein Puls! Ich dachte zuerst, ich könne den Puls nicht finden, bis ich begriff, dass ihr Herz nur alle drei Sekunden schlug!« Nach der Herzschrittmacher-OP, für die Israel nur eine lokale Betäubung braucht, stand sie am nächsten Tag zum ersten Mal seit Jahren selbständig auf, zog sich an und packte ihre Koffer, um davon zu eilen, weil sie so viel zu tun habe. »Ihre Familie war völlig fassungslos. Da erfuhr ich, dass sie zuvor fünf Jahre lang im Bett gelegen hatte. Wenn sie aufstand, fiel sie sofort in Ohnmacht.«
Das Privatkrankenhaus in Nairobi, in dem er die Operationen durchführt, berechnet den Patienten 200 Dollar. Können die Patienten auch diese Summe nicht aufbringen, bezahlt Carsten Israel das aus der Kasse der von ihm 2010 gegründeten gemeinnützigen Organisation »Herzschrittmacher für Ostafrika«. Einmal habe eine Familie aus dem besonders armen Norden telefonisch versichert, sie habe auch die drei Dollar für die Busfahrt nach Nairobi nicht. »Ich hielt das für eine Ausrede und dachte, die haben wohl Angst vor dem Eingriff, aber die drei Dollar haben wir dann auch noch bezahlt.« Als die Familie dann mit dem Patienten vor ihm stand, war er schockiert über ihre schlechte Kleidung und offensichtliche Unterernährung. »Da begriff ich, dass die wirklich keine drei Dollar übrig hatten. Die brauchten jeden Cent für Nahrung«.
Israel zählt zu den renommiertesten Kardiologen Deutschlands. Und dennoch geben ihm die Begegnungen in Ostafrika ein Gefühl, etwas besonders Sinnvolles zu tun. »Die Situation, dass Patienten etwas leicht Behebbares haben, das dort einfach nicht behoben wird, habe ich in der Form in Deutschland noch nie erlebt. Das wünsche ich jedem Arzt einmal als Erfahrung.« Gleichzeitig habe er damit auch »eine echte Verantwortung« übernommen. In Sambia etwa gebe es eine einzige Kardiologin im ganzen Land, die den Beruf deshalb ergriff, weil ihre kleine Schwester an einer behebbaren Herzschwäche starb. Oft fehlt es vor Ort nicht nur an Herzschrittmachern, sondern auch an sterilen Kanülen, Antibiotika und anderen Dingen, die in deutschen Krankenhäusern zur Grundausstattung gehören. Israel und sein Team nehmen deshalb alles mit, was sie brauchen, inklusive Medikamenten. Trotzdem muss er immer wieder improvisieren. Er habe auch schon im Schein einer Schreibtischlampe operiert, die notdürftig an Schnüren über den Patienten hing. Und er weiß jetzt schon, dass er in spätestens sechs Monaten wieder nach Kenia muss, weil er einer seiner Patientinnen einen neuen Herzschrittmacher einsetzen und bei anderen die Batterien austauschen muss. Wenn er es nicht tut, stehen Menschenleben auf dem Spiel.
Eine ähnliche Initiative wie Carsten Israel hat übrigens Thomas Crawford gestartet, ein Kardiologe an der University of Michigan, der ausrangierte US-amerikanische Herzschrittmacher nach Südamerika liefert. Und ein kanadischer Kollege, Adrian Baranchuk vom Kingston General Hospital an der Queen’s University, fährt in seinen Ferien mit einem »Kardiologie-Laster« durch die Anden, um in abgelegenen Dörfern bei Herzproblemen zu helfen.
Die kenianischen Patienten wiederum drücken ihre Dankbarkeit anders aus als Patienten in Deutschland. Bevor Israel einem großgewachsenen Massai in Kenia einen Herzschrittmacher einsetzte, wurde der in seiner Umgebung gehänselt, weil er sich auf der familieneigenen Erdnussfarm angeblich immer davor drückte, bei der harten Arbeit mit anzupacken. »Als der vor mir stand, hatte er einen Puls von 40!«, ruft Israel. »Es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch auf zwei Beinen stand, geschweige denn, schwere Säcke schleppte.« Nachdem er den Herzschrittmacher eingesetzt hatte, habe er dem Patienten geraten, über Nacht zur Beobachtung in der Klinik zu bleiben, aber der Mann habe sich so gut gefühlt, dass er ablehnte. »Zwei Stunden später kam er völlig nassgeschwitzt zu mir in die Klinik, um sich zu bedanken.« Mit seinen Brüdern hatte sich der Patient 100-Meter-Sprints geliefert, um den neuen Apparat zu testen. Israel betont, es sei in Deutschland absolut ausgeschlossen, dass ein Herzpatient direkt nach der Operation Leistungssport betreibe, aber der Patient war überschwänglich: »Ich war der Schnellste!« Carsten Israel strahlt. Der Sieg des Mannes war auch seine Leistung.
Foto: Privat