Christian Schiller segelte gerade zwischen Kolumbien und Panama, als sich sein Boot in einem massiven Algen-Müll-Teppich verfing. Der passionierte Wassersportler hatte sich ein einjähriges Sabbatical gegönnt und reiste um die Welt, nachdem er in Deutschland die Carpooling-Plattform BlaBlaCar mit aufgebaut hatte. »Als das Ruder in der Karibik im Plastikteppich feststeckte, dachte ich zurück an ein Praktikum, das ich als Fulbright-Scholar in Houston, Texas, gemacht hatte«, erzählt er via Video-Telefon aus seinem Hamburger Büro. »Dort hatte ich gesehen, mit welch enormem Aufwand wir Öl aus der Erde fördern. Dann nutzen wir das daraus hergestellte Produkt einmal kurz und es landet im Meer. Ich kann mir kaum eine größere Verschwendung wertvoller Ressourcen vorstellen.«
Als er im Sommer 2018 von seiner Weltreise nach Deutschland zurückkehrte, hatte er noch keinen neuen Job und überlegte: Was ist mir wirklich wichtig? Wo kann ich mit meiner Erfahrung mit digitalen Plattformen am meisten bewirken? Im Rahmen eines Trainingsprogramms für Existenzgründer in Berlin begegnete er dem Software-Ingenieur Volkan Bilici, der bereits im Betrieb seiner Eltern Einblick in den Kunststoffmarkt bekommen hatte. Zusammen setzten sich Schiller und Bilici das Ziel, die Plastikkrise mit den Mitteln der Digitalisierung zu lösen. Sie gründeten Ende 2018 Cirplus, die erste globale Handelsplattform für recycelte Kunststoffe. Der Name ist ein Wortspiel, in dem das englische Wort »surplus« (Mehrwert) sowie der Materialkreislauf (»circular«) phonetisch anklingen.
Die Idee der beiden klingt einleuchtend: Ihre Plattform bringt Kunststoffverarbeiter und Markenhersteller mit Firmen zusammen, die Kunststoffabfälle recyclen. Im Augenblick ist der Markt so unübersichtlich, dass es schwierig ist, überhaupt zu erfahren, wo auf der Welt welche Art von recyceltem Plastik in welcher Menge anfällt. Mit der Cirplus-Software lässt sich hingegen präzise verfolgen, welche Art von Kunststoffabfall in Form von Rezyklat an welchem Ort zuverlässig zur Verfügung steht. Um die Transaktionen zu vereinfachen, kann die Software sogar in den Beschaffungsprozess der Firmen integriert werden. Bisher haben sich über 2500 Firmen auf der Plattform registriert, darunter auch einige große Verpackungshersteller und Produzenten von Markenartikeln.
Plastikrecycling ist enorm kompliziert. Die meisten Menschen denken, wenn sie ihren Abfall in den gelben Sack stecken, wird das Plastik komplett wiederverwertet. Aber in Wahrheit liegt die Recyclingrate in Europa und den USA bei unter fünf Prozent. Zwar nennt die EU eine Recyclingrate von 13 bis 15 Prozent, aber die ARD-Doku Die Plastiklüge vom Juli 2022 brachte die Wahrheit ans Licht. »Wenn man das PET-Flaschen-Recycling rausrechnet, die nicht über den gelben Sack entsorgt werden, kommt man auf weniger als fünf Prozent Plastikrecycling, und das auch oftmals nicht in gleichwertigen Anwendungen«, bestätigt auch Schiller.
Eine der Hürden liegt darin, dass die Abfallgesetzgebung sich von Land zu Land, manchmal sogar von Bundesland zu Bundesland oder Stadt zu Stadt unterscheiden. Allein die EU hat 27 verschiedene Abfallregime, genau genommen sogar noch mehr, denn die Märkte unterteilen sich jeweils in Konsumenten-, Gewerbe- und Industrieabfälle. Eine weitere Herausforderung sind die oft kontaminierten Kunststoffe und Restanhaftungen. Und selbst wenn diese Probleme gelöst sind, ist es immer noch nicht leicht, aus alten Kunststoffen neue zu machen, die zum Beispiel immer den gleichen Blauton einer Marke treffen.
Eigentlich sollten Plastikvermeidung und -recycling zu den drängendsten Weltanliegen zählen. Doch trotz zaghafter Vorstöße bei lokalen und nationalen Abfallverwertungsgesetzen und obwohl Indien und die Euroäische Union inzwischen ein Verbot von Einmalplastik beschlossen haben, wächst die Plastikproduktion unaufhörlich weiter – und mit ihr der Müll. »Bis 2050 soll die Plastikproduktion auf deutlich über eine Milliarde Tonnen pro Jahr ansteigen«, sagt Schiller. Die Weltbank spricht schon jetzt von 240 Millionen Tonnen Plastikmüll pro Jahr. Die Vereinigten Staaten sind dabei der größte Plastikverschmutzer, mit 130 Kilo Plastik pro Person pro Jahr.
Ohne globale Plattform weiß ein Verpackungshersteller in Düsseldorf nicht, dass jemand in Osteuropa gerade eine Tonne Recyclate loswerden will
Am meisten verblüffte Schiller aber, als er kurz nach der Gründung von Cirplus mit dem Verband der Kunststofferzeuger sprach und ein Repräsentant ihm unverhohlen sagte, dass die Erzeuger schlicht nicht wüssten, wo ihre Produkte landeten. »Das ist wirklich schockierend. In Europa wissen wir nicht, was mit acht bis 15 Millionen Tonnen Plastikmüll passiert!« Dafür ist leider bekannt, dass 15 bis 20 Millionen Tonnen Plastik jedes Jahr in den Weltmeeren landen. Schiller findet es »wirklich unfair«, dass die Industrie enorme Gewinne einstreiche, die Umweltkosten aber an die Allgemeinheit weitergebe. Zur Erinnerung: Ölgigant Exxon, der weltgrößte Hersteller von Polymeren, verkündete einen Rekordgewinn von 56 Milliarden Dollar im letzten Jahr.
»Welches Problem gehen wir zuerst an?« fragt Schiller. Seiner Meinung nach sei die mangelnde Kenntnis der globalen Müll- und Recycling-Ströme »einer der größten Brocken« – und genau da setzt Cirplus an. Ohne globale Plattform weiß ein Verpackungshersteller in, sagen wir, Düsseldorf nicht, dass jemand in Osteuropa gerade eine Tonne Recyclate loswerden will. »Die Einkäufer der großen Verpackungshersteller wie Procter & Gamble, Henkel oder Beiersdorf müssen in der Lage sein, verlässlich große Mengen von Recyclaten in konstanter Qualität zu sichern, bevor sie von fossil basierten Kunststoffen auf Recyclate umstellen«, erklärt Schiller. Außerdem ist neues Plastik im Augenblick noch 20 bis 30 Prozent billiger als recycletes, und Schiller hört von Herstellern nicht selten Sätze wie: »Wir haben von unserem CEO nicht das Okay, Material für 20 Prozent mehr einzukaufen. Melden Sie sich wieder in einem halben Jahr.«
Andere wollen zwar mit Recyclaten arbeiten, scheitern aber daran, dass diese oft nicht konstant in gleichbleibender Qualität verfügbar sind. Außerdem, sagt Schiller, »arbeitet die Industrie im Einkauf nicht selten noch mit Fax und Telefonanrufen. Die Branche benötigt einen riesigen Schub in Sachen Digitalisierung.« Solange Recyclate teurer sind als Neuplastik, fehlt die Motivation, in neue Recyclingmethoden zu investieren. »Wenn man wirklich auf ein Kreislaufsystem hinarbeiten will, muss man den Recyclingmarkt so angehen wie den Energiemarkt«, meint Schiller.
Schiller hofft, Cirplus könnte einmal die erste Anlaufstelle weltweit für recyceltes Plastik werden. Im Augenblick ist die Firma ein überschaubares Startup mit zwölf Angestellten. Doch die Plattform wächst, mit derzeit bis zu 1,3 Millionen Tonnen handelbarem Plastik. Cirplus und Mitbewerber wie plastship sehen Metalshub als Modell, eine digitale Plattform für Metalle, die seit der Gründung 2016 mehr als drei Milliarden Tonnen Material umgeschlagen hat. Wie viel Material über Cirplus tatsächlich verkauft wurde, kann Schiller nur schätzen: Die Plattform ermöglicht zwar, den Bestand abzufragen, die Geschäfte machen die beteiligten Firmen dann aber direkt. Schiller geht davon aus, dass die Plattform erst dann rentabel wird, wenn die neuen Gesetze näherrücken und Verbraucher auf mehr Plastikrecycling drängen.
Aber wenn man mit Schiller über seine Erfahrungen seit der Gründung spricht, wird schnell offenbar, dass Cirplus nur ein kleines Teilchen im enorm komplexen, globalen Müllverwertungspuzzle ist. Um die Plastikkrise wirklich zu lösen, braucht es viel größere Verschiebungen und viel stärkere Anstrengungen. Schiller blickt neidisch nach Schweden, wo gerade die größte Plastikrecyclinganlage der Welt gebaut wird, Site Zero, mit einer Kapazität von mehr als 200.000 Tonnen Material pro Jahr. Das Nachbarland Norwegen recycelt bereits 97 Prozent seiner Plastikflaschen und führt die Verhandlungen über ein Internationales UN-Abkommen zur Plastikvermeidung nach dem Vorbild des Pariser Klimaabkommens von 2015. Bis dahin predigt Schiller die klassischen »drei Rs« der Kreislaufwirtschaft: reduce, reuse, recycle.
Letzten Sommer besuchte Schiller die größte Müllhalde der Welt im indonesischen Jakarta. Jeden Tag werden dort mehr als 7.000 Tonnen Abfall abgeladen werden, Hunderte von Menschen graben im Müll nach wertvollen Metallen. Jahrelang ließen sie Kunststoffe links liegen, aber inzwischen bezahlt sie die Recycling-Organisation Plastic Bank auch für Plastik. So wurden bereits mehr als 1,5 Milliarden Plastikflaschen aus dem Müll gerettet. Es mag zwar noch ein langer Weg sein, aber auch die kleinen Schritte zählen. Denn jedes recycelte Kilo Plastik ist ein Kilo Plastik weniger auf der Müllhalde oder im Meer.