Wenn Täter um Hilfe rufen

Wie lässt sich häusliche Gewalt eindämmen? Eine US-Hotline wendet sich nicht an Opfer, sondern an die Täter – und versucht, gewalttätige Männer in langen Gesprächen zur Einsicht zu bringen.

Häusliche Gewalt ist erschreckend weit verbreitet. Während sich die meisten Hilfsangebote nachvollziehbarerweise an deren Opfer richten, setzt sich nun langsam die Einsicht durch, dass es sinnvoll sein kann, auch den Tätern dabei zu helfen, ihr Verhalten zu ändern.

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Der Anrufer sagt, er habe gerade eine SMS von seiner neuen Freundin bekommen. »Was gestern Nacht passiert ist, war sexuelle Gewalt«, habe sie ihm geschrieben.

»Erzähl mir, was los war«, fordert die Traumatherapeutin J.A.C. Patrissi den Mann auf.

Stockend beschreibt der Anrufer, wie der Abend ablief. Als wolle sie einen Film zu Zeitlupe verlangsamen, hakt Patrissi immer wieder nach. »Als sie sich weggedreht hat, wie war deine Reaktion? Als sie nein sagte, was hast du dann gemacht?«

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»Du weißt schon, wie das läuft«, sagt der Anrufer.

»Nein, ich weiß nicht, wie das läuft«, kontert Patrissi ruhig, aber bestimmt. Es wird still am anderen Ende der Leitung.

Schließlich kommt der Anrufer selbst zu einer Einsicht. »Ich hatte nicht ihr Einverständnis«, gibt er zu. »Es war also sexuelle Gewalt im Spiel.«

Der Mann will wissen, ob er sich mit seiner Tat strafbar gemacht habe. Patrissi antwortet ehrlich, dass er sich möglicherweise einer Anzeige stellen müsse, bevor sie die Frage stellt, die ihr am wichtigsten ist: »Wie wird dich diese Erkenntnis verändern? Welche Konsequenzen wirst du daraus ziehen?«

Ungefähr so wie hier beschrieben laufen viele Anrufe beim Beratungstelefon A Call for Change in Massachusetts ab. Die Traumatherapeutin J.A.C. Patrissi gründete das Angebot im April 2021, damit Menschen, die in intimen Beziehungen Gewalt ausüben, professionelle Hilfe finden können, und zwar anonym. Ziel ist, dass sie zu Selbstreflexion und Einsicht gelangen und ihr Verhalten ändern. Zwar gibt es bereits in fast jedem US-Staat Interventionsprogramme für Gewalttäter, aber diese sind fast immer gerichtlich angeordnet und werden vom Justizapparat überwacht. Patrissis Beratungstelefon funktioniert anders: Die Anrufe werden nicht aufgezeichnet, sind völlig freiwillig und vertraulich. Nach langer Debatte mit ihrem Team und nachdem sie sich auch mit Telefonberaterinnen und -beratern in anderen Ländern ausgetauscht hatte, entschied sie, das Beratungstelefon gänzlich unabhängig von der Polizei zu führen. »Vor allem Anrufer, die Minderheiten angehören, aber auch viele andere, würden uns sonst nicht anrufen.« Selbst wenn ein Gewalttäter ein Verbrechen gesteht, verraten ihn Patrissi und ihre zehn Mitarbeiter also nicht an die Behörden. Die einzige Ausnahme wäre, wenn die Berater am Telefon Zeuge eines Verbrechens würden, aber das ist noch nie vorgekommen.

Kritiker werfen »A Call For Change« vor, eine Art Beichtstuhl für Gewalttäter zu sein, wo Täter ihr Gewissen erleichtern können, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Patrissi widerspricht energisch

Patrissi begann das Beratungstelefon, weil sie einen dringenden Bedarf dafür sah: Jede vierte Frau und jeder neuen Mann in den USA haben laut der National Campaign Aigainst Domestic Violence schon einmal häusliche Gewalt erfahren. Auch in Deutschland sind die Zahlen erschreckend hoch. In den USA werden mehr als die Hälfte aller Morde an Frauen von ehemaligen oder aktuellen Partnern verübt. Fast alle Hilfsangebote konzentrieren sich dabei auf die Opfer; auch in Deutschland landet man mit wenigen Ausnahmen bei Anlaufstellen für Opfer häuslicher Gewalt oder Hotlines, bei denen man der Polizei Übergriffe melden kann.

Die Pandemie hat das Problem häuslicher Gewalt weltweit verschärft. »In den Lockdowns wurde besonders deutlich, dass Maßnahmen, die sich allein auf die Opfer konzentrieren, viele Probleme ungelöst lassen«, sagt Patrissi. Nicht nur seien die Fälle häuslicher Gewalt massiv gestiegen, viele Frauenhäuser waren geschlossen oder konnten wegen der Abstandsregeln weniger Menschen aufnehmen. »Gerade auf dem Land, wie in Massachusetts, wo wir sitzen, kannst du nicht einfach in ein Auto steigen und davonfahren«, erklärt Patrissi. »Deine Familie und Freunde sind hier, die Schule deiner Kinder, deine Tiere. Es hat auch nicht jeder ein Auto.« Außerdem, so fragt Patrissi, »warum müssen es immer die Opfer sein, von denen erwartet wird, alles aufzugeben und ihr Zuhause zu verlassen, obwohl es doch der Täter war, der Gewalt ausübte?«

Die Erfolgsraten vieler gerichtlich verordneter Programme für Verursacher von häuslicher Gewalt sind sehr gering. In Kalifornien etwa liegt die Zahl derer, die aussteigen, bevor sie die Programme absolviert haben, bei bis zu 89 Prozent. »Die Rückfallquoten sind enorm«, bestätigt Regi Wingo, ein Telefonberater von »A Call for Help«, der schon seit 14 Jahren in Therapiegruppen zu häuslicher Gewalt arbeitet. »Da sitzt eine Gruppe von Kerlen im Kreis, die gar nicht hier sein wollen und auch gar nicht wirklich an sich arbeiten wollen«, fasst Wingo seine Beobachtungen zusammen. »Das ist etwas ganz anderes als ein Gespräch mit jemandem, der sich wirklich verändern möchte. Dem kann man die Frage stellen: Wie stellst du dir deine Zukunft vor? Willst du in einem Polizeiauto abtransportiert werden oder willst du lernen, ein zuverlässiger Partner zu werden?«

J.A.C. Patrissi gründete das Beratungsangebot »A Call For Help« im April 2021. Dahinter steht die gemeinnützige Organisation »Growing A New Heart«. Patrissi, die selbst schon Opfer häuslicher Gewalt war, ist ausgebildete Traumatherapeutin.

Bevor sie das Beratungstelefon in Betrieb nahm, hörte Patrissi von Skeptikern, da werde eh keiner anrufen. Tatsächlich kamen bereits im ersten Jahr mehr als 200 Anrufe, inzwischen sind es doppelt so viele. »Die Anrufer sind erleichtert, dass sie endlich mit jemandem über die Gewalt sprechen können, die sie ausgeübt haben«, sagt Patrissi. Überdurchschnittlich viele Anrufe kommen von Angehörigen von Minderheiten, weil, so glaubt Patrissi, »dort das Misstrauen in die Polizei besonders tief sitzt und sie nicht wissen, an wen sie sich sonst wenden können.« Etwa 70 Prozent der Anrufer sind Gewalttäter, die Hilfe suchen, die anderen 30 Prozent sind Angehörige oder Freunde, die fragen, wie sie einem Gewalttäter helfen können, sein Verhalten zu ändern.

Patrissi kennt die Probleme aus eigener Erfahrung, denn sie wuchs in einer Familie auf, in der Gewalt zum Alltag gehörte. »Ich werde nie vergessen, wie ich mich im Kleiderschrank versteckte und dachte, erinnere dich immer daran, wie sich das anfühlt.« Später, als Erwachsene, hatte sie einen Partner, der übergriffig wurde.

Das Beratungstelefon war ursprünglich für Menschen in Massachusetts gedacht, aber die Beraterinnen und Berater nehmen inzwischen Anrufe aus allen US-Bundesstaaten entgegen. Nur Anrufer, die sich in einer akuten psychischen Krise befinden, leitet Patrissi an Spezialisten weiter; und Menschen, die Kinder missbrauchen, werden mit Stop it now verbunden, einer gemeinnützigen US-Organisation, die sich einzig der Prävention von Kindesmissbrauch verschrieben hat.

Für Patrissi ist es »ein enorm positives Zeichen, wenn Gewalttäter selbst beschließen, den Telefonhörer abzunehmen und anzurufen. Am Telefon können sie die ganze Wahrheit erzählen über das, was sie getan haben.« Mit ihrem Team hat sie Strategien entwickelt, um diese Gespräche möglichst effektiv zu führen. »Würden wir nur Mitgefühl zeigen, ohne die Anrufer zur Rechenschaft zu ziehen, wären wir Komplizen. Würden wir die Anrufer aber nur zur Rechenschaft ziehen, ohne Mitgefühl, und ihnen vorhalten, was sie alles falsch gemacht haben, bekämen wir keinen Zugang. Unser Weg, die Anrufer zur Rechenschaft zu ziehen, führt über’s Mitgefühl. Danach ist es möglich, sehr unangenehme, schwierige Gespräche zu führen.«

Natürlich kann man tiefsitzende Probleme nicht mal eben am Telefon beheben. »Die meisten Anrufer haben mehrere Baustellen, also versuchen wir, sie mit den richtigen Partnern zu vernetzen. Jemand wird nicht deshalb gewalttätig, weil er obdachlos oder drogenabhängig ist, aber Obdachlosigkeit und Drogen tragen vermutlich zu seinem Frust bei. Also arbeiten wir daran, diese Stressfaktoren zu minimieren«, erklärt Patrissi ihre Herangehensweise. Für den Erfolg des Angebots spricht auch, dass sich mehr als zwei Drittel der Anrufer mehrmals bei »A Call For Change« melden. Wenig überraschend rufen ganz überwiegend Männer an, vom alten Macho bis zum jungen Footballspieler. »Was ich da für Ansichten über Frauen höre und über Männer als dominantes Geschlecht«, sagt Regi Wingo und schüttelt den Kopf. »Ich sage denen klipp und klar: Hör mal, so funktioniert das nicht. Wenn du eine gesunde Beziehung willst, wirst du damit nicht weit kommen.«

Kritiker werfen »A Call For Change« vor, eine Art Beichtstuhl für Gewalttäter zu sein, wo Täter ihr Gewissen erleichtern können, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Patrissi widerspricht energisch. »Deshalb betone ich die Verantwortlichkeit und die Vertraulichkeit. In vom Gericht angeordneten Sitzungen geben Täter oft nicht alle Taten zu, weil sie dann Angst haben, dass das die Einschätzung des Gerichts negativ verändert.« Weil alle ihre Telefonberater aber »sehr erfahren« seien, ist Patrissi überzeugt, dass sie »Krokodilstränen als solche erkennen. Wir warten auf den Moment der Stille, wenn der Groschen fällt und der Anrufer die Wahrheit über sich erkennt.«

Patrissi arbeitet seit Jahrzehnten mit Opfern von häuslicher Gewalt und hat eine Ausbildung als Traumatheraputin. Als Teil ihrer Arbeit für die »National Coalition Against Domestic Violence« bekam sie Einblicke in die Angebote für Opfer und Täter. Auch deshalb unterscheidet sich ihr Angebot von dem, was häufig in solchen Therapieangeboten gelehrt wird. »Eine der Binsenweisheiten ist, dass Gewalttäter bessere Kommunikationsstrategien brauchen, also andere Möglichkeiten, um sich in Beziehungen auszudrücken, als Gewalt«, sagt sie. »Aber es gibt top gebildete Rechtsanwälte, die ihre Partner zuhause verprügeln.« Der Partner, der ihr selbst gegenüber gewalttätig wurde, war gar ein Psychotherapeut, der auch noch im Vorstand eines Interventions-Programms gegen häusliche Gewalt saß. »Er kannte alle Kommunikationsstrategien, aber er wandte sie nicht an, als er mich tätlich angriff.«

Sie ist davon überzeugt, dass Hilfe für Gewalttäter nicht unbedingt in der Vermittlung besserer Kommunikationsfähigkeiten liegt. Die Krux sei die Überzeugung der Täter, dass sie überlegen seien, von dieser Ansicht müssten sie wegkommen. Manchmal, sagt Patrissi, spüre sie das auch bei Anrufern. »Die versuchen dann, am Telefon dominant zu werden und unsere Berater in die unterlegene Position zu bringen«, erzählt sie.

Auch in Australien, Schweden, Kanada und anderen Ländern gibt es ähnliche Hilfstelefone. Eines der ersten Angebote dieser Art war die Respect Phoneline in Großbritannien, wo man seit 2004 jedes Jahr mehr als 6000 Anrufe von Gewalttätern entgegennimmt, die Hilfe suchen. Eine Studie aus Großbritannien hat ergeben, dass ein solches Interventionsprogramm sehr erfolgreich bei der Eindämmung von häuslicher Gewalt war. Weil »A Call for Change« noch relativ neu ist und die Anrufe nicht aufgezeichnet werden, ist es schwierig zu eruieren, wie erfolgreich die Beratungen letztendlich sind. Patrissi ist jedoch fest überzeugt davon, dass ihr Beratungstelefon einen positiven Effekt hat. »Unser Job ist einfach, den Spiegel hochzuhalten, damit die Täter ihre Muster erkennen.«