Als sich meine vier Jahre alte Nichte den Knöchel verknackste, brauchten wir dringend Krücken in passender Größe. Die Lösung: Statt auf die Schnelle teure Kinderkrücken im Medizinversand oder gar auf Amazon zu kaufen, fragten wir an unserem kalifornischen Wohnort in der lokalen Buy-Nothing-Gruppe. (Auf Deutsch könnte man das mit »Kaufnix« übersetzen.) Innerhalb von zwei Stunden boten zwei Familien ihre Krücken an, die nach ähnlichen Malheurs ungenutzt in der Garage lagerten, und wir holten sie aus der Nachbarschaft ab; zur Sicherheit beide, um zu testen, welche Größe am besten passte. Nach drei Tagen gaben wir sie wieder zurück. Damit hatten wir gut 50 Dollar gespart und dabei noch zwei ausgesprochen nette Familien zwei Straßen weiter kennengelernt.
Möglichst viele Dinge nicht mehr neu zu kaufen, sondern sie zu leihen oder sogar geschenkt zu bekommen, hilft bei der Lösung vieler Probleme, von Inflation bis Konsumrausch, von Weihnachtsstress bis Ressourcenverschwendung. Wer nichts kauft, trägt zu all dem kaum etwas bei. Die Idee ist nicht neu, hat aber in den vergangenen Jahren nochmal Fahrt aufgenommen. Um diejenigen, die etwas abzugeben haben, mit denen zusammenzubringen, die etwas brauchen, gibt es viele Wege. In der vordigitalen Zeit war es vielleicht der Zettel am Laternenmast oder die Anzeige in der »Zu verschenken«-Sektion des Lokalblatts. Heute gibt es spezielle Webseiten wie Free Your Stuff, oder Freecycle, auch auf der Nachbarschaftsplattform nebenan.de werden oft Sachen verschenkt. Besonderen Zulauf verzeichnet auch das an der US-Westküste ins Leben gerufene Buy Nothing-Projekt, bei dem inzwischen mehr als 6,5 Millionen Menschen in 44 Ländern mitmachen. Obwohl es aufgrund der dezentralen Organisationsform vieler dieser Ideen und Projekte schwierig ist, Rückschlüsse über deren Ausmaß zu ziehen, scheint hier doch gerade eine Bewegung von Menschen zu entstehen, die sich dem Konsumwahn entziehen möchten.
Die Regeln bei Buy Nothing sind jedenfalls einfach: Es darf keine Bezahlung und auch keine Gegenleistung verlangt oder angeboten werden. Geschenkt ist geschenkt. Alles darf verschenkt werden – bis auf verschreibungspflichtige medizinische Geräte, Drogen oder sonstwie Illegales. Mitglieder stellen einfach ein Foto von dem, was sie loswerden wollen, in die lokale Buy-Nothing-Gruppe auf Facebook oder in die Buy-Nothing-App, eine kurze Beschreibung dazu, und dann darf jeder kommentieren oder sich melden, der das Angebotene gerne haben möchte. Bäcker geben am Ende des Tages ihre übriggebliebenen Backwaren ab. Nachbarn mit Obstgärten die Äpfel und Birnen, die sie unmöglich allein essen können. Der Heimtrainer, der eigentlich noch gut, aber verstaubt ist, weil der Ehrgeiz nicht fürs tägliche Training reichte; das achtteilige Kaffeeservice von Oma, das man nicht wegwerfen, aber auch nicht benutzen möchte; schon leicht zerschlissene Bettücher … alles findet dankbare Abnehmer.
»Wir glauben, dass Menschen von Natur aus großzügig und mitfühlend sind«
Rebecca Rockefeller
Zwei Frauen auf Bainbridge Island, einer Insel in der Nähe von Seattle, hatten 2013 die Idee und gründeten Buy Nothing als hyperlokale Facebook-Gruppe mit der Motivation, Nachbarinnen und Nachbarn zusammenzubringen. Rebecca Rockefeller (keine Erbin des Ölmilliardärs) hatte damals als alleinerziehende Mutter zweier kleiner Kinder Mühe, über die Runden zu kommen. Liesl Clark wiederum betrieb zuvor 14 Jahre lang archäologische Forschung im Himalaya und war schwer beeindruckt von der Solidarität, die sie dort in abgeschiedenen Bergdörfern erlebte: Werkzeuge, Ernte und Hilfsmittel wurden im Dorf einfach als Allgemeingut behandelt und geteilt. Alles wurde wiederverwertet.
Also das genaue Gegenteil vom modernen Städterleben. Studien zeigten gerade wieder, dass bei uns Millionen Tonnen Kleider jedes Jahr als Folge des Fast-Fashion-Wahns im Müll landen, weil selbst Second-Hand-Läden die Flut nicht mehr stemmen können. Sogar »Fast-Furniture« ist inzwischen ein gängiger Begriff, weil die Sperrholz-Schreibtische und Schaumstoff-Sofas von Billig-Möbelhaus halt kein Leben lang halten, sondern oft nur ein oder zwei Jahre.
»Wir erforschten diese bis zu 3000 Jahren alte Kultur«, erzählte dagegen Clark dem Yes Magazine über ihre Asien-Erfahrungen. »Diese Gemeinschaften konnten nur überleben, weil sie sicherstellten, dass sie auch die schwächsten Mitglieder mittrugen.« Clark und Rockefeller dachten sich, so etwas müsse sich auch in Amerika umsetzen lassen. Rockefeller fand es besonders niederschmetternd, dass sie als Alleinerziehende oft als minderwertig behandelt wurde. »Das Schlimmste war, dass ich mir wie eine Last vorkam. Ich wollte auch wieder zur Gebenden werden«, sagt sie. »Wir glauben, dass Menschen von Natur aus großzügig und mitfühlend sind, und verstehen, dass wir nur gemeinsam überleben. Wir schaffen es nur, wenn wir nachhaltig auf diesem Planeten leben.«
Das Konzept schlug ein. Manche machen aus finanzieller Not mit, andere aus Protest gegen den Konsumwahn und aus ökologischen Gründen. »Es reut mich einfach, lebende Pflanzen in den Müll zu werfen«, sagte meine Nachbarin, bevor sie mein Auto voller Kamelien und Rosen lud. Die Blumen hätten mich im Gartencenter ein Vermögen gekostet. »Buy Nothing ist nicht zu schlagen, wenn es darum geht, Sachen vor der Müllhalde zu bewahren«, sagt ein anderer Fan. »Eine fabelhafte Ressource, um Geld zu sparen und den Planeten zu retten.« Ich bin schon die teure Knieschiene losgeworden, die ich nach meinem Kreuzbandriss brauchte, den Riesenesstisch meiner Schwiegermutter, der beim besten Willen nicht in unsere Zwei-Zimmer-Wohung passt, und den Haufen Kabel, der am Ende eines Umzugs übrigblieb. Außerdem ist die App eine nie versiegende Quelle der Spannung: Welche verrückten Sachen haben die Nachbarn heute wieder ins Internet gestellt? Bekomme ich das schöne türkisfarbene Fahrrad oder gibt meine Nachbarin jemand anderem den Vorzug? Es ist ein wenig wie früher als Studentin auf dem Flohmarkt, wo man immer wieder mal unerwartet einen Schatz ausgrub.
Jeder Anbieter kann selbst entscheiden, wem er oder sie den Zuschlag gibt. Manche gehen einfach der chronologischen Reihenfolge nach und geben ihr Zeug dem ersten, der sich meldet. Andere lassen ihre Kinder Lose ziehen oder fordern die Nachbarn auf, sie zu überzeugen: »Wenn ich euch diese Buddha-Statue gebe, wo werdet ihr sie hinstellen? Schickt mir ein Foto!«
Das schnelle Wachstum brachte natürlich auch Kritik und Probleme. Weil die Buy-Nothing-Gruppen lokal zugeschnitten sind, spiegelt sich in ihnen auch wider, dass manche Gegenden schwerreich und andere ärmer sind. Während in der Strandgegend von San Diego schon mal ein Segelschiff, ein Steinway-Piano oder eine nagelneue Küche vom Messestand verschenkt wird, sind es in den Arbeitervierteln eher Alltags-Gegenstände, Schulmaterialien, Kinderkleidung und Bücher.
Nach Naturkatastrophen wie dem Erdbeben in Nepal 2015 oder den Waldbränden in Kalifornien wurden die Gruppen zu Hilfstruppen, sammelten sofort Zelte, Generatoren und Kleidung. Zu Covid-Zeiten fungierten sie vielerorts als Notfallsystem für erkrankte Anwohner. »Eine Nachbarin lieh mir ihre Nähmaschine, mit der ich Masken für die Klinik schneiderte«, schreibt eine Buy-Nothing-Mitglied.
Mit jedem Umzug fand ich eine neue Buy-Nothing-Gruppe und damit auch sofort Anschluss an die Nachbarschaft
Tatsächlich ist Buy Nothing mehr als eine Tauschbörse: Die meisten Gruppen kümmern sich auch um Armut und Einsamkeit. In meiner Gruppe können zum Beispiel Bedürftige eine Liste jener Sachen hinterlassen, die sie sie dringend benötigen – und wenn das jemandem peinlich ist, übernehmen die Moderatoren den Post. Wenn eine Rentnerin darum bittet, ob ihr jemand den Rasen mähen könnte oder eine Covid-Kranke zu schwach ist, um ihren Hund Gassi zu führen, findet sich garantiert jemand, der einspringt. In gewisser Weise ist es die Nachbarschaftshilfe, die früher oft selbstverständlich war – und die in deutschen Großstädten inzwischen oft von der erwähnten Nachbarschaftsplattform nebenan.de unterstützt wird. Ich mache schon allein deshalb mit, weil ich in den letzten drei Jahren drei Mal umgezogen bin. Mit jedem Umzug fand ich eine neue Buy-Nothing-Gruppe und damit auch sofort Anschluss an die Nachbarschaft.
Viel hängt davon ab, wer die Gruppe moderiert. Da gibt es die ganze Bandbreite von megapingelig bis zu Mir-doch-egal. Aber insgesamt sind die Gruppen erstaunlich frei von dem Online-Gift, das anonyme User sonst gern auf Facebook versprühen. Vielleicht auch deshalb, weil sie eben nicht anonym sind. Zwar muss keiner seinen Personalausweis hochladen, aber jeder beantwortet vor der Aufnahme in die lokale Gruppe ein paar Fragen, deren Antworten eigentlich nur Anwohner kennen.
Mir persönlich gefällt an den Buy-Nothing-Gruppen am besten, dass darin auch so verrückte Sachen angeboten werden, bei denen ich mir nicht vorstellen kann, sie könnten jemals Abnehmer finden. Die halb gegessene Pizza vom Vorabend. Überreife Bananen (für Bananenbrot-Bäcker). Fischtank-Wasser (das halten manche für den besten Gartendünger, habe ich gelernt). Toilettenpapier-Rollen (als Pflanzenhalter). Essensreste von der Party, für die Gastgeber zuviel Kuchen einkauften. Immer findet sich jemand, der im Internet begeistert die Hand hebt. »Bitte wähle mich! Ich hätte das wahnsinnig gerne!«
Ich habe auf Buy Nothing schon einen Retro-Plattenspieler für meine bessere Hälfte entdeckt, einen schönen alten Spiegel für unser Bad und eine afrikanische Statue, die nun auf meinem Nachttisch steht. Wie lange? Das weiß ich noch nicht. Wenn ich sie einmal nicht mehr brauche, gebe ich sie einfach wieder weiter.
In diesem Sinne: Frohe Leihnachten!