Sie waren für ein Wochenende allein weggefahren. Die Kinder übernachteten bei Freunden. Das Hotel war perfekt. Sie hatten ein Talent, zusammen die schönsten Plätze zu finden. Aber Marie, die Genießerin, nahm die Schönheit wahr wie eine falsche Kulisse. Sie war in Panik. »Da saß ich mit meinem Mann, das Meer vor uns, den frischesten Fisch auf dem Teller. Und ich rannte immer wieder hinaus und heulte mir die Augen aus dem Kopf.« Marie ist keine Frau, die zu Panik neigt. Sie wusste nicht, wovor sie diese bodenlose Angst hatte. Sie wusste nur, dass etwas mit Thomas anders war.
Sie glaubte nicht, dass er fremdgegangen war. Ihr Mann schien kein Interesse an anderen Frauen zu haben. Sie hatte das nie verstanden, aber es war immer so gewesen. Marie war ein viel zu hagerer, viel zu flachbrüstiger Teenager gewesen. Aber Thomas, den sie mit 18 kennenlernte, fand sie und ihren Körper wunderbar. Er redete nicht nur, er begehrte sie, kam nie von irgendwoher zurück ohne ein Geschenk. Aber in letzter Zeit war er jähzorniger und unzufriedener geworden. Wenn sie fragte, was los sei, kamen vage Ausflüchte. Sie wusste, dass etwas schieflief. Sie hatte nur keine Ahnung, was. Vielleicht sah er doch andere Frauen an, wenn sie nicht dabei war. Sie war häufig nicht dabei. Er verbrachte beruflich viel Zeit im Ausland. Aber mit einer kleinen Untreue, wenn es das war, würde sie fertig werden.
Thomas war schon seit Wochen in Panik. Er wollte ihr nichts verheim-lichen. Sie hatten einander immer ohne Rückhalt vertraut. Wenn er zu Hause war, brachten sie die Kinder zur Schule, setzten sich aufs Sofa und redeten. Das vermisste er auf seinen Reisen am meisten. Aber jetzt, an diesem Wochenende, musste er ihr etwas sagen, was ihr noch mehr Angst machen würde als ihm. Er soff am Abend die Minibar leer und sagte: »Ich hatte Sex mit einem Mann. Ich glaube, ich bin bisexuell.«
Marie und Thomas heißen nicht Marie und Thomas. Sie würden ihre Namen preisgeben, wenn sie nicht zwei junge Kinder hätten. Die Kinder wissen, warum ihr Vater ausgezogen ist. Ob sie mit dem Wort schwul etwas anfangen können, sagen Marie und Thomas, sei weniger wichtig, als dass sie wissen, dass mangelnde Zuneigung nicht der Grund für ihre Trennung war.
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Zum Zeitpunkt unserer Treffen hatten sich Thomas und Marie seit Monaten nur bei der Übergabe der Kinder gesehen. Er hätte sie jedes Mal gern umarmt, sie wies jede Zärtlichkeit zurück. Sie sagt: »Es war das Schlimmste, was ich ihm und mir antun konnte. Wir waren beide große Anfasser gewesen. Aber ich dachte, wenn er mich umarmt, falle ich um.« Wir fragten, ob sie sich gemeinsam oder nur allein fotografieren lassen wollten. Er überließ die Entscheidung ihr. Zusammen, sagte sie, vielleicht bewege das etwas zwischen ihnen. Sie seien seit seinem Auszug im Umgang miteinander wie vereist. Irgendwann, als Fotografin Vera Hartmann die Filme wechselte, umarmten sie sich lange. »Hätte sie mich in diesem Moment gefragt, ob ich zurückkomme, hätte ich ja gesagt«, sagt Thomas am nächsten Tag. Sie sagt: »Ich hätte ihn nie gefragt. Er ist schwul und muss sein Leben leben.« Nach dem Fototermin schrieb sie ihm eine ihrer vernünftigen Marie-Mails: »Das war hart. Aber wir werden beide wieder glücklich sein.« Er antwortete: »Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisse.« Er lebte inzwischen mit einem Mann, sie allein mit den Kindern.
Jeder kennt eine Geschichte von einem ehemals oder noch immer verheirateten Schwulen. Die Mehrzahl von ihnen hatten bereits vor der Ehe homosexuelle Erfahrungen. »Dass ich schwul sein könnte, ging mir nie durch den Kopf. Natürlich, als ich zu onanieren anfing, dachte ich meist an junge Männer. Ich wusste, das war nicht normal. Ich machte Deals mit mir: Eine Minute durfte ich an Männer denken, dann nur noch an Mädchen. Und nur einmal passierte etwas, als ein Mitschüler im Kino seinen Arm um mich legte. Kein Kuss, kein Gefummel, nur der Arm. Ich saß stocksteif da und hoffte, dass der Film nie aufhört.«
Er erinnert sich daran, weil er gefragt wird und nach Erlebnissen sucht, die ihm etwas hätten klarmachen müssen. Aber der Kinobesuch war nichts Einschneidendes. Thomas tat gern, was alle andern auch taten: mit Frauen schlafen. Er hatte keine schwulen Freunde, »sonst wäre ich vielleicht auf den Gedanken gekommen. Ab und zu kamen diese Wolken, aber ich hatte keinerlei Koordinaten, ich konnte sie nicht einordnen«. Wolken nennt er seine Irritation, wenn ihn ein Mann interessiert ansah.
Maries Eltern sind streng religiös. Der Vater war zerstreut und viel öfter weg, als sein Beruf erforderte, die Mutter empfand sie als »lächerlich unterwürfig«. Marie war schon früh überzeugt zu wissen, was ihre Mutter nicht wahrhaben wollte: Der Vater hatte eine Geliebte. Sie hasste die fromme Ehrerbietigkeit zwischen den Eltern mit dem Instinkt eines Kindes für Fassaden und Geheimnisse. Dennoch vergötterte sie ihren Vater. Wenn sie mit ihm allein war, redeten sie ohne Ende. »Als Teenager erzählte ich meinem Vater all meine Probleme. Kein Mädchen tut das. Für mich war es das Normale. Nur über seine eigenen Gefühle sprach er nie.« Zwanzig Jahre später erfuhr sie, dass ihr Vater homosexuell war und seit vielen Jahren einen Geliebten hatte.
Marie und Thomas lernten sich in Boston kennen. Er hatte ein Stipendium, sie kellnerte. Sie hatte von zu Hause weggewollt, egal wohin. Zum ersten Date in ihre Wohnung kam Thomas mit Blumen und allen Zutaten für eine Paella. Er kochte, sie schliefen miteinander. »Er war ein fantastischer Liebhaber«, sagt Marie. Er sagt: »Sie brauchte mich nur zu berühren, und ich war erregt.« Beide sagen getrennt mit fast denselben Worten, sie hätten an jenem Abend ein Gespräch begonnen, das erst 15 Jahre später abbrach.
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Der Sex blieb lange gut. »Es geht nicht darum, dass ich ein Hengst und sie eine Sexgöttin war«, sagt Thomas, »aber wir hatten eine aufregende Intimität und für uns beide sehr befriedigenden Sex. Deswegen habe ich den Wolken nie nachgehangen.« Einmal versuchte er auf einer Geschäftsreise, einen Kollegen zu einem Drink in sein Hotelzimmer einzuladen. Der Mann sagte nein. Er erinnere sich daran, sagt Thomas, weil es das einzige Mal gewesen sei, wo er aktiv geworden war: »Das Nein war frustrierend, aber am nächsten Tag war die Wolke weg. Ich war glücklich und sexuell befriedigt mit Marie.« Während ihrer ersten Schwangerschaft fand er sie anziehender denn je.
Sie kehrten nach Europa zurück, als er eine gut bezahlte Stelle fand. Sie begann, Architektur zu studieren. Neues Kind, neues Studium – es stresste ihr Zusammenleben erstaunlich wenig. »Alle sagten, wir führen die perfekte Ehe«, sagt Marie, »aber es war auch viel harte Arbeit. Wir hatten hohe Ziele und wir erreichten viele davon.« Thomas sagt: »Zusammen hatten wir eine unglaubliche Power.« Nach der Geburt des zweiten Kindes wurde die Sexualität gemächlicher, das Küssen weniger. Er fand das normal nach fast zehn Jahren Ehe. Sie war beunruhigt und fragte eine Freundin. »Zweimal pro Woche, und du sorgst dich?«, fragte die Freundin ungläubig zurück.
Seit 1998 hatten sie Internet. Natürlich habe er sich da Pornobilder angeschaut, sagt Thomas. Nicht obsessiv. Aber immer Männerbilder. Er saß vor den Fotos, onanierte und fühlte sich hinterher wie Dreck. Das war keine Wolke. Das war er, der Männer anklickte, um scharf zu werden. Immer öfter waren die Bilder auch da, wenn er mit Marie schlief. Untreue, sagt Thomas, sei noch immer keine Fantasie gewesen. Das Problem sei gewesen, dass sie mehr Sex wollte als er. Heute glaubt er, sie habe etwas gespürt, ohne es greifen zu können.
Dass er schließlich auf einer Geschäftsreise Sex mit einem Mann hatte, war weder geplant noch zufällig. »Es ging von ihm aus, aber er musste mich nicht überreden.« Es sei kein Erdbeben gewesen. Er habe sich auch nicht schuldiger gefühlt als nach dem Onanieren vor dem Computer. Niemals würde er dafür sein Leben mit Marie aufgeben. Aber dass er offenbar bisexuell war, musste er ihr erzählen. Das Wort schwul wollte er nicht einmal denken. Bisexuell bedeutete, dass die Ehe nicht gefährdet war.
Von der Nacht, als er in dem perfekten Hotelzimmer sagte, er sei wohl bisexuell, hat Marie ihren heiseren Schrei in Erinnerung behalten. Das Wort bisexuell zerstörte das Wichtigste in ihrem Leben: die Sicherheit, mit Thomas die Kinder großzuziehen, mit ihm alt zu werden. »Er sagte bisexuell, ich hörte schwul, nicht zufällig. Ich bin die Tochter eines homosexuellen Vaters, ich wusste, dass die Natur immer gewinnt.«
In den Monaten danach versuchten beide zu tun, als habe der Abend nie stattgefunden. Sie klammerten sich aneinander mit einem Bedürfnis nach Nähe, an dem nichts mehr selbstverständlich war. Sie schliefen miteinander, aber der Sex war verkrampft. »Thomas wollte unbedingt beweisen, dass sich zwischen uns nichts verändert hatte«, sagt Marie, »und ich hatte diesen fixen Gedanken, keinen Penis zu haben und für ihn sexuell nicht attraktiv zu sein.«
Thomas spürte ihre Verunsicherung: »Sie brauchte die Bestätigung, dass ich sie begehrte. Irgendwann fing ich an zu lügen. Beim Sex dachte ich, es wird nie mehr wie früher. Aber danach, wenn wir uns zum Einschlafen dicht nebeneinanderlegten, wusste ich, dass ich niemals ohne sie sein kann.« Dass er sie kaum noch küsste, findet er im Nachhinein einleuchtend: »Küssen ist für mich intimer als oraler Sex. Unser Problem war Intimität, darum kämpfte Marie. Und ich wollte diese Art der Intimität nicht mehr mit ihr teilen. Es hatte nichts mit ihr zu tun, sondern mit meiner Veränderung, von der ich nicht viel begriff.«
Fast so groß wie Maries Verzweiflung war ihre Scham. Sie zermarterte sich den Kopf, ob sie nicht längst alles hätte merken müssen. Sie fühlte sich grenzenlos dumm, zweifelte, ob ihr Glück eine einzige Lüge gewesen sei. Hätte sie es ahnen müssen, weil er im Bad länger brauchte als sie? Weil er mit schlafwandlerischer Sicherheit Kleider für sie aussuchte? Manchmal stellte sich Marie, nach der sich auf der Straße jeder Mann umdreht, vor den Spiegel und glaubte zu sehen, was Thomas an ihr so gefiel: »Ich habe einen Hintern wie ein schmaler Junge, praktisch keinen Busen, Schultern wie ein Schwimmer. Ich bin eine 35-jährige Frau mit dem Körper eines 20-Jährigen.« Bullshit, sagt Thomas ärgerlich: »Was hatte der kleine Busen mit ihrer Weiblichkeit zu tun? Die Vorstellung, ich hätte in ihr einen Mann gesehen, ist völlig absurd. Aber es war ihr nicht auszureden.«
Auf seinen Reisen hatte Thomas nun immer wieder Sex mit Männern. Er verschwieg es ihr, obwohl er versprochen hatte, nichts zu verheimlichen: Sie sollte entscheiden können, ob sie dieses Leben wollte, und dazu musste sie wissen, was es für ein Leben war. Aber er hatte nicht den Mut, ehrlich zu sein. »Ich respektierte ihn enorm dafür, dass er mir von seinem ersten Sex mit einem Mann sofort erzählt hatte«, sagt Marie, »damit gab er mir eine Wahl.«
Aber jetzt beobachtete sie ihn. Jedes Kleidungsstück, das er anzog, interpretierte sie. Es war nicht nur Maries Verunsicherung: Thomas’ Äußeres veränderte sich in wenigen Monaten radikal. Er, der nicht dick, aber um die Hüften nicht mehr ganz rank war, machte verbissen Muskeltraining, schaufelte Proteinpulver, Vitamine und Keratin in sich hinein, magerte ab, ließ seine Haare strecken.»
Plötzlich hatte er diesen Trapezkörper«, sagt Marie, »es faszinierte mich und erschreckte mich zu Tode.« Die Jeans konnten nicht tief genug sitzen, die T-Shirts wurden enger und kürzer.« Marie zeigt Fotos von vor drei Jahren. Sie zeigen einen lässig gekleideten, gelockten Thomas mit etwas Hüftspeck, den niemand für schwul halten würde. Der Thomas von heute kleidet sich unübersehbar homosexuell. »Ich weiß nicht, ob meine Kleider plötzlich so schwul aussahen, wie Marie behauptete«, sagt er, »aber wenn ich damals bewusst mein Coming-out gehabt hätte, wäre ich vermutlich viel vorsichtiger gewesen. Ich glaubte noch immer, bisexuell zu sein und sogar auf Männer verzichten zu können, wenn uns das als Paar wieder bringen konnte, was wir gehabt hatten.«
Ein halbes Jahr nach seinem Geständnis verliebte sich Thomas in einen Kollegen. Es war seine erste nicht nur sexuelle Erfahrung mit einem Mann. Thomas erlebte eine Intimität, die anders war als mit Marie und die zu leben ihn reizte. Der Kollege brach die Beziehung ab, als er Thomas’ Unfähigkeit, sich für ihn oder Marie zu entscheiden, nicht mehr aushielt. Und er warnte ihn: »Du stehst dieses Doppelleben nicht mehr lange durch.« Kurz darauf las Marie auf dem gemeinsamen Computer ein sehr liebevolles und detailreiches E-Mail des Kollegen an Thomas. Sie schmiss den Laptop in eine Ecke und schrie: »Musst du eine Frau fertigmachen, die schon am Boden liegt?« Heute sagt sie: »Als er mir erzählte, er habe mit einem Mann geschlafen, ging es um unsere Liebe, und er sagte es mir mit Liebe. Das hier war Betrug. Beim ersten Mal brach meine Welt ein, beim zweiten Mal mein Vertrauen. Ich wusste jetzt, dass unsere Liebe dagegen nicht ausreichte.«
»Ich versprach Marie danach alles, was sie hören wollte«, sagt Thomas, »dass ich sie begehrte, dass ich meine Bedürfnisse nach Sex mit Männern in eine Schublade packen würde. Ich wollte nur mit ihr leben. Die Wahrheit ist, dass ich mich weniger schämte für meine Lügen als für die Möglichkeit, schwul zu sein.« Sie gingen in Therapie und suchten nach Wegen, wie sie zusammenbleiben konnten. Nur wenige Freunde wussten von ihrem Problem.
Thomas’ Freunde redeten ihm zu, seine ständigen Reisen seien die ideale Voraussetzung, so viel Sex mit Männern zu haben, wie er wolle, ohne seine Familie zu gefährden. Maries Freunde sagten: »Alle Männer gehen fremd. Er liebt dich. Ob er daneben etwas mit einem Mann oder einer Frau hat, macht doch keinen Unterschied.« Aber weder für sie noch für ihn waren ein Zusammenleben mit der Option auf heimliche Affären denkbar. Er sei, sagt Thomas, über ein Jahrzehnt lang vermutlich einer der wenigen mühelos treuen Ehemänner gewesen und er werde auch jetzt ein Beziehungsmensch bleiben. Für Marie war »nach 15 Jahren Treue und Vertrauen undenkbar zu sagen, ab jetzt bin ich blind. Und obwohl ich nicht weiß, was eine schwule Identität ist, verstehe ich, dass es viel mehr um Identität als um Sex geht. Es geht auch um Respekt vor mir selber: Ich glaube, ich verdiene, geliebt zu werden, auch sexuell.«
Die wenigen Bücher, die sie zu dem Thema fand, gaben keine Hoffnung. Wo ein schwuler Mann sein Coming-out hatte, verkroch sich seine Ehefrau. In den Büchern endete es fast immer mit Scheidung. Sie tranken beide zu viel, stürzten sich auf jede Party. »Marie fing sich schneller«, sagt Thomas, »ich benahm mich völlig daneben. Ich glaube, ich ließ mich so lange treiben, bis ich eine Entscheidung treffen musste.« Er warf mit Geld um sich, das sie nicht hatten, vernachlässigte die Kinder, machte teure Ferien. Sie leistete sich keinen Urlaubstag, saß meist mit den Kindern zu Hause und hasste sich in ihrer Opferrolle. Sie hatten nie um Geld gestritten, plötzlich wurde es ein Thema.
Der entscheidende Krach hatte einen nichtigen Anlass. Er war früh aufgestanden, um für seinen jüngeren Sohn einen Geburtstagskuchen zu backen. Sie schlief noch. Plötzlich stand er unter ihrer Tür und schrie: »Warum soll ich diese Frauenarbeit machen? Ich hab die Schnauze voll, ich brauche Zeit für mich.« Es ging nicht um den Kuchen und nicht darum, wer früher oder später aufstand. Sie wussten beide, dass sie am Ende waren. Thomas ertrug das Lügen nicht mehr. Er schlief nun auf der Couch. Fünf Monate später zog er aus.