SZ-Magazin: Frau Sattler, wie viele Flaschen Wein haben Sie von glücklichen Eltern in den letzten Jahrzehnten geschenkt bekommen?
Christina Sattler: Sehr, sehr viele. Wie viele genau, weiß ich nicht. Die Flaschen gebe ich meinem Mann. Ich trinke nie einen Tropfen Alkohol, weil ich Tag und Nacht abrufbar bin. Von meinen Patientinnen wünsche ich mir, wenn ich gefragt werde, lieber Musik-CDs – aber nicht zu modern. Man gewinnt der moderneren Musik nur etwas ab, wenn man sich länger damit beschäftigt. Aber die Zeit, mich da einzuhören, hab ich nicht. Brahms geht noch, Stockhausen nicht mehr.
Man sagt: Die Kinder, die Sie auf die Welt gebracht haben, könnten ein Olympiastadion füllen.
Das ist übertrieben! Leider habe ich keine genauen Aufzeichnungen, aber überschlagen werden es an die 20000 sein. Seit 1980 bin ich Oberärztin im Kreißsaal, und da werde ich auch von jungen Kollegen gerufen, wenn es irgendwo hakt. Diese Geburten zählen auch dazu. Mein Chef sagt, in Deutschland habe niemand mehr Geburten gemacht, weil niemand so lang an einer Klinik gearbeitet hat wie ich. Und in München hat die Uni-Frauenklinik Innenstadt die meisten Geburten, fast 2500 im Jahr.
Können Sie sich genau erinnern, warum Sie sich für diesen Beruf entschieden haben?
Ja! Weil ich hier, in dieser Klinik, kurz vor meinem Staatsexamen in Medizin mein erstes Kind bekommen und mich nicht gut betreut gefühlt habe. Nach der Entbindung dachte ich mir: Man kann die Geburtshilfe nicht allein den Männern überlassen. Es gab doch die Hebammen.
Aber die durften nicht mitreden, das ist heute anders. Als ich anfing zu arbeiten, im März 1969, und zwar in dieser Klinik, mochten die Patientinnen eher keine Ärztinnen, sie gingen lieber zu Ärzten. Weil die Ärztinnen sich noch mehr wie Männer verhielten als die Männer selbst. Das mussten sie, um akzeptiert zu werden. Es gab nur eine Art, Medizin zu machen – eine männliche. Ein Beispiel: Wenn eine Frau in der zweiten Schwangerschaft im Bett liegen sollte, aber daheim ein kleines Kind zu betreuen hatte, wurde einfach gefragt: Wollen Sie dieses Baby jetzt oder nicht? Heute versuchen wir, für jede Frau eine gute Lösung zu finden. Das hat sich schon geändert – es findet heute mehr Teamarbeit statt.
Gibt es nach all den Jahren einen Rat, den Sie Schwangeren gern geben? Die Frauen sagen, sie wollen ganz natürlich entbinden. Sie erzählen, wie gut sie Schmerzen aushalten, und betonen, andere Frauen hätten ja auch Kinder bekommen. Das stimmt. Aber eine Geburt ist eine Grenzsituation, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Es gibt Frauen, die bekommen leicht Kinder, aber sehr viele tun sich gerade beim ersten Kind sehr schwer. Und da können schmerzerleichternde Mittel und eventuell eine PDA, also eine lokale Narkose der Rückenmarksnerven, schon helfen.
Was halten Sie von den klassischen Hebammentipps zur Geburtsvorbereitung?
Da gibt es einige Tipps aus der Erfahrungsmedizin.
Zum Beispiel Nelkentampons zur Wehenanregung am Geburtstermin oder Himbeerblätter zur Entspannung des Beckenbodens.
Diese Wirkungen sind nicht nachgewiesen. Nachweislich wirksame Methoden sind zum Beispiel Akupunktur, die hilft, den Muttermund zu öffnen, oder bei einer Steißlage des Kindes die sogenannte Indische Brücke. Eine Turnübung, die die Kinder in die richtige Position bringt.
Ist eine Geburt für Sie immer noch so ein Wunder wie für die Eltern?
Nein, aber eine Geburt ist bei jeder Frau etwas Neues und Einzigartiges, das gefällt mir. Und ich werde immer wieder überrascht: Eine Frau stellt sich zur Entbindung vor und äußert den Wunsch, möglichst natürlich zu entbinden, und ich denke manchmal: Also die wird es ohne Schmerzmittel wohl nicht schaffen. Und auf einmal entwickelt sie während der Geburt ganz ungeheure Kräfte. Dann hab ich mich getäuscht, das erlebe ich immer wieder.
Welche Erlebnisse aus dem Kreißsaal werden Sie nie vergessen?
Die Geburten, bei denen eine Frau gestorben ist. Das passiert selten, aber es kommt immer noch vor; zum Beispiel, wenn Fruchtwasser in den Blutkreislauf gelangt. Aus Respekt vor den verstorbenen Frauen möchte ich nicht ins Detail gehen. Die Geburtshilfe ist ein gefährliches Fach.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Die Geburtshilfe unterliegt schon seit dem Mittelalter den jeweiligen Moden. Und ein paar Jahre später denkt man sich: Um Himmels willen, was wurde denn da gemacht?")
Und gibt’s besonders schöne Erinnerungen?
Die Geburt der drei Kinder meiner Tochter war etwas Besonderes, auch wenn der Geburtsverlauf ganz normal war: Meine Tochter hatte schon Wehen, als sie angeradelt kam, dann lag sie in der Badewanne, und es ging los. Viele Kollegen haben mich gefragt: Du traust dich, deine Tochter zu entbinden? Ich habe gearbeitet wie sonst auch. Die Geburt meiner Enkel war nur viel persönlicher.
Wie viele eigene Kinder haben Sie?
Vier. Der Älteste ist 44, und die jüngste Tochter ist 40 Jahre alt. Mir hat mal ein Kollege erzählt, dass zu Beginn meiner Berufstätigkeit alle gedacht haben: Die hat vier Kinder, zum Arbeiten wird die nicht kommen.
Und hat sich seit damals das Verhältnis zu arbeitenden Müttern in Kliniken geändert?
Ja, die Frauen haben mehr Selbstbewusstsein; sie können in Teilzeit arbeiten und doch habilitieren. Das fordert und strengt an. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung: Wenn man arbeitet, muss man die Ruhe haben, um zu arbeiten, man darf sich nicht Sorgen um die Organisation zu Hause machen. Und wenn man zu Hause ist, muss man die Ruhe haben, zu Hause zu sein. Frauen, die das mischen, habe ich alle scheitern sehen.
Was hat sich für Sie am deutlichsten verändert in den Jahren, in denen Sie helfen, Kinder zur Welt zu bringen?
Früher wurde jedes Kind sofort nach dem Abnabeln auf den Wickeltisch geschleppt und untersucht. Diese Kinder haben alle viel, viel mehr geschrien als die Kinder heute, die sofort auf den Bauch der Mutter gelegt werden. Weil die Säuglingssterblichkeit in Deutschland nach dem Krieg so hoch war, wurde sehr verschult gearbeitet, sogar mit Mundschutz und Hauben. Das hat dann wieder abgenommen, dafür kam in den Siebzigern ein neuer Trend: Sicherheit durch Planbarkeit war der letzte Schrei, daher wurden viele Geburten eingeleitet; diese Form der Geburtshilfe ist auch wieder verschwunden.
Ende der Sechzigerjahre gab es mal die Mode, den Frauen bei der Geburt eine kurze Narkose zu geben, die sogenannte Durchtrittsnarkose?
Ja, man wollte die Schmerzen beim Durchtritt des kindlichen Köpfchens verringern und gab der Frau eine kurze Vollnarkose. Heute kann man sich das nicht mehr vorstellen, weil der schönste Teil der Geburt nicht erlebt wird. Die Geburtshilfe unterliegt schon seit dem Mittelalter den jeweiligen Moden. Und ein paar Jahre später denkt man sich: Um Himmels willen, was wurde denn da gemacht?
Und welcher Trend herrscht gerade im Kreißsaal?
Viele Frauen wollen entweder selbst oder auf Empfehlung mancher Ärzte einen Kaiserschnitt. Ich werde nicht müde zu betonen: Der Kaiserschnitt ist eine Operation und deshalb nicht ungefährlicher oder leichter zu nehmen als eine vaginale Entbindung. Auch nicht bequemer.
Ärzte führen oft die Größe des Kindes als Kriterium für einen Kaiserschnitt an.
Das hat mit der Schädigung des Beckenbodens zu tun. Ich habe viele große Kinder vaginal entbunden, ohne Komplikationen. Man muss nur wissen, was zu tun ist, wenn im Ultraschall ein Kind auf mehr als 4000 Gramm geschätzt wird. Die Geburtshilfe ist eine Kunst und ein Handwerk. Und das beherrschen heute nicht mehr viele. Weil es auch nicht mehr so gut gelehrt wird.
Warum gibt es immer mehr große Kinder?
Die Mütter ernähren sich so gut. Als ich im Jahr 1964 meine Doktorarbeit gemacht habe, war ein Kind mit 3500 Gramm groß – so ein Kind wird heute als zart bezeichnet.
Viele Frauen befürchten, dass nach einer vaginalen Entbindung die Muskulatur des Beckenbodens ausleiert. Ist das auch ein Märchen?
Frauen mit mehreren Kindern haben häufig Beckenbodensenkungsbeschwerden –das stimmt. Aber da halte ich dagegen: Auch Ordensschwestern haben manchmal Senkungsbeschwerden. Wenn man nach der Geburt eine konsequente Rückbildungsgymnastik macht, kann man den Beckenboden wie jeden Muskel sehr gut trainieren, und man wird keine Probleme haben. Und noch etwas: Man fällt nicht seinem Schicksal anheim. Heidi Klum war auch nach ihren Geburten wieder fit.
Ihre Prognose: Wann wird der Kaiserschnitt wieder die Ausnahme im Notfall sein?
Wenn die Frauen das Gefühl haben, den Ärzten nicht mehr vertrauen zu können. Die Frauen wollen ernst genommen werden, und sie werden sich Ärzte oder Ärztinnen suchen, die im Kreißsaal sind, wenn die Wehen kommen, und sie werden die Ärzte meiden, die einen Termin im Operationssaal vereinbaren, weil es grad in ihren Kalender passt. Eventuell gibt es noch einen anderen Grund: Heute herrscht Angst im Kreißsaal – vor dem, was da passiert. Geburtshilfe ist eine gefährliche Sache, und Medizin wird oft zur »Absicherungsmedizin«. Manche Kollegen glauben: Wenn gleich operiert wird, kann weniger Unvorhergesehenes passieren. Sie achten sehr darauf, dass sie keine Schadensersatzforderungen bekommen.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Ich spüre natürlich auch manchmal Spannungen in der Beziehung während einer Geburt.")
Ist Ihnen schon mal ein Fehler passiert?
Ja, Fehler passieren allen. Aber ein so grober Fehler, dass ich mir Gedanken machen müsste – nein. Schrecklich, wenn es so weit kommt, dass Sie bei der Geburt überlegen, ob Sie es mit einer Juristin zu tun haben oder nicht! Ich arbeite nach bestem Wissen und Gewissen. Bei all meinen Patientinnen.
Es klingt fast, als könnten Sie nicht so viel anfangen mit der jungen Generation der Mediziner?
Ich war mit meiner Generation auch nicht zufrieden, ganz und gar nicht. Da habe ich auch schon viele Methoden infrage gestellt – nur so bringt man die Dinge voran. Heute wird eine Schwangerschaft jedoch mehr über eine Ultraschalluntersuchung betreut – es wird kein persönlicher Kontakt aufgenommen. Ich bin überzeugt, auch das wird sich von selbst regulieren – sonst gehen die Frauen bald nur noch zu Heilpraktikern.
Sie erleben einen sehr intimen Moment im Leben vieler Frauen, Sie lernen auch häufig die Männer kennen. Wie erleben Sie die Paare?
Ich spüre natürlich auch manchmal Spannungen in der Beziehung während einer Geburt. Das gehört dazu. Aber ich beobachte etwas anderes: Die Frauen sind meist sehr gut vorbereitet und kommen mit viel Wissen in den Kreißsaal, und auch die Männer sind in Geburtsvorbereitungskursen gewesen. Ein Jahr später erfahre ich dann, dass die Beziehung auf der Strecke geblieben ist. Wenn man wirklich alles fürs Kind tun möchte, sollte vor allem auf die eigene Beziehung geachtet werden.
Ist die Überhöhung der Geburt auch eine Modeerscheinung?
Dieses Getue um die Kinder, dieser Mutterkult, wird oft übertrieben. Natürlich ist Familie wichtiger als der Beruf. Und ein Kind ist eine wahnsinnig tolle Erfahrung für eine Frau, aber neben Partnerschaft und Beruf auch nur eine Phase im Leben: Die Kinder werden erwachsen. Eine Gesellschaft, in der es den Leuten gut geht, in der es keine anderen Probleme gibt, außer alles für das Kind zu tun, wird mir unheimlich. Das gipfelt schon vor der Geburt etwa in der Diskussion um das Nabelschnurblut, das ja Stammzellen enthält. Man unterscheidet die »Nabelschnurblutspende« für private oder für allgemeine Zwecke. Bei der Nabelschnurblutspende für das eigene Kind wird das Blut 20 Jahre konserviert, und die Eltern müssen mehr als 2000 Euro bezahlen. Ich halte diese privaten Spenden für unnötig. Eine aktuelle Studie der amerikanischen Stammzellenforschung zeigt: Von 200000 privaten Nabelschnurblutspenden in den USA wurde nur eine privat verwendet. Das heißt: 199999-mal wurde nur gezahlt. Man muss aufhören zu glauben, dass man alles für ein Kind tun kann! Es gibt Dinge im Leben, die passieren schicksalhaft. Und wir haben in Deutschland ein flächendeckendes, gut funktionierendes Gesundheitssystem. Ein Kind kommt eher auf der Straße um, als dass es an Leukämie stirbt. Die Eltern machen sich verrückt: wegen der Wahl des Kindergartens, oder der perfekten Schule. Auch die Lehrer haben heute die Hölle auf Erden, weil alle Eltern denken, ihr Kind sei etwas ganz Besonderes.
Im März gehen Sie in den Ruhestand. Freuen Sie sich eigentlich darauf?
Ja, sehr. Ich habe viel vor: Ich werde oft ins Konzert, in die Oper und ins Theater gehen, all das, was ich jetzt jahrelang nur im Urlaub in New York tun konnte, da war ich oft in der Met und der Carnegie Hall. Vielleicht werde ich eine Computerschule besuchen, damit ich besser mit dem Internet umgehen kann, als ich das bisher im Beruf gelernt habe. Das ging ja bisher nicht, weil ich keinen einzigen Termin einhalten konnte: Ich bin immer abrufbar. Auch samstags und sonntags.
Klingt, als ob eine robuste Natur Voraussetzung für Ihren Beruf ist.
Ja, wenn man ihn so mit Leidenschaft ausübt wie ich, dann schon. Ich kann zum Beispiel überall und immer sofort schlafen, deshalb leide ich auch nicht unter Schlafmangel, trotz der unregelmäßigen Arbeitszeiten. Und Geduld brauchen Sie auch in meinem Fach. Sie müssen warten können, und das kostet viel Zeit, auch Freizeit.
Foto: Ralf Zimmermann