Zuhause lebt mit dem Vater zur Miete bei Hannover
Ausbildung/Beruf Abitur (2,4); Studium oder Profisportler
Liebe Inga, 21
Einkommen ab und an Preisgeld
Lieblingsessen Pasta in allen Variationen
Lieblingsstar gibt’s nicht
Größter Wunsch Ort, an dem ich mich zu Hause fühle
Nächster Urlaub Rad fahren in den Alpen
Ein grauer Klotz aus Beton, daneben ein zweiter, dahinter ein dritter; Satellitenschüsseln, Wäscheständer, Geranien; hundert Fenster, übereinander, nebeneinander, aus einigen schauen alte Menschen. Hier, in der Nähe von Hannover, lebt Jasper. An der Klingel steht »Jauch«. Damals wohnte er nur ein paar Kilometer weiter in einem kleinen Haus mit Garten, an der Tür stand »Familie Jauch-Hesse« auf einer Tontafel, wie man sie im Werkunterricht macht. Irgendetwas muss vorgefallen sein.
Jasper hat Kaffee gekocht, auf dem Tisch eine Packung Toffifee und ein Teller mit Gebäck: ein Stück Zwetschgenkuchen, ein Amerikaner mit Zuckerguss, jeweils halbiert, der Gast soll von beidem probieren können. Der Irokesenschnitt ist weg, dafür steckt ihm ein Ring in der Oberlippe, geblieben ist der warme Blick. Er ist allein in der Wohnung, der Vater ist arbeiten, der Bruder ausgezogen, nur Thorsten ist da, die Wasserschildkröte. »Noch Milch?«, fragt Jasper, presst die Luft aus dem leeren Tetrapak und faltet ihn klein, bevor er ihn in den Müll wirft. Er wirkt nicht angepasst dabei, eher umsichtig. Jasper ist gewohnt, für sich selbst zu sorgen: Spaghetti kochen, Pfandflaschen zurückbringen, die Hemden bügeln – macht er alles, seit er 13 war.
Jasper hat mal wieder keine Mutter, also keine, die da ist. Der Unterschied zu früher: Er leidet nicht mehr drunter. Sagt er. Glaubt er. Jasper ist sechs, als sich die Eltern trennen. Seine Mutter zieht aus, er bleibt beim Vater. Vier Jahre später muss er doch zur Mutter, ein Jahr darauf zurück zum Vater. Mit elf bekommt er drei neue Geschwister. Sein Vater hat sich verliebt. Eine Frau mit roten Haaren und Kindern zieht ein. Nach ein paar Monaten nennt er sie »Mama«, das war die Jauch-Hesse-Phase. »Wir werden nie auseinandergehen«, sagen sein neuer Bruder Nino und er – heute weiß Jasper nicht mal, wo Nino wohnt: »Ostsee, Nordsee, irgendwo da oben.« 2003 wirft sich Jaspers großer Stiefbruder Nils vor eine Straßenbahn, danach zerbricht auch diese Beziehung des Vaters. »Seit zwei Jahren hat Papa wieder eine Freundin«, sagt Jasper, »ich mag sie, aber hier rein darf sie erst, wenn ich weg bin.« Sein Vater akzeptiert das. So lange leben die beiden in einer Männer-WG. Vielleicht schläft Jasper deshalb nur auf einer Matratze.
Jasper ist sensibel, ohne sentimental zu sein. Lustig, aber nie derbe. Sozial und trotzdem lässig. Ein praktischer, beharrlicher, angstfreier Mensch, der Gefühle zeigt, ohne sie herzuzeigen. Ohne Scheu spricht er von seiner Freundin Inga. In seinem Zimmer hängen gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos, eine hübsche junge Frau, ein Jahr älter als er. »Ich mag es, wenn ich mich um jemanden kümmern kann«, sagt er. Vor zwei Jahren musste Jasper ein Schulpraktikum machen. Er ging zu einem Steinmetz, suchte sich einen Felsbrocken und legte ihn zwei Wochen lang nicht aus der Hand. Am Ende hatte er eine Vogeltränke aus dem Stein gehauen. Heute steht sie bei einem Freund im Garten, Jasper hat keinen Garten.
Wenn Jasper etwas kaufen will, muss er dafür arbeiten. Das war immer so. Sein Vater war acht Jahre lang arbeitslos. Damals habe er zu Weihnachten halt einen Pullover bekommen, nicht weil der so schön war, sondern weil er dringend einen brauchte. Einen Vorwurf macht er niemandem deswegen. Er kennt es nicht anders. Seit zwei Wochen muss er zur Krankengymnastik. Eine Wirbelprellung. Praxisgebühr, Rezeptzuzahlung, macht er alles selbst. »Mein Konto«, sagt er, »ist immer leer.« Er wirkt nicht so, als würde ihm das Angst machen. Irgendeinen Freund findet er immer, der ihm was leiht, der einen Job für ihn hat, Werkstatt, Büro, Garten, egal. Manchmal sind es auch hundert Euro Preisgeld, die ihn über die nächsten Monate retten. Jasper fährt Downhill-Mountainbike. Schnell, gefährlich, steile Hänge, über Wurzeln, Steine, Felsen. Sein erstes gutes Rad erarbeitet er sich: fünf Euro die Stunde, zwei, drei Jahre lang, bis er 5000 Euro zusammenhat. Inzwischen bekommt er seine Räder von einem Ausrüster gestellt. Gerade wurde er Fünfter bei den Deutschen Meisterschaften. Er könnte Profi werden. Das Zeug dazu hat er, die Angebote auch. In diesem Jahr will er sich entscheiden.
»Komm mal mit«, sagt er plötzlich. »Ich zeig dir was.« Draußen steht ein Kleinbus, Jahrgang 87, eine Hippie-Karre. »Hab ich mir neulich gekauft.« Den Laderaum hat er mit Teppich ausgelegt, darauf eine Matratze, im Eck eine Kiste mit Gaskocher und Papptellern, eine Packung Salami, abgelaufen, übrig geblieben vom letzten Wettbewerb. Die meisten Rennen sind in den Alpen. Für die langen Fahrten hat er sich CDs zusammengestellt, Rock und Techno; Musik, die einen spüren lässt, dass man unterwegs ist, dass man für etwas brennt, dass man lebt. Nach einem Tag mit Jasper fühlt man sich erwachsen und langweilig. Man ahnt, dass einen diese ständigen Ayurveda-Massagen nicht notwendigerweise glücklicher machen werden.
Fotos: Konrad R. Müller