In Florida, im Urlaub, beschloss ich, mir nie wieder die Fingernägel zu lackieren. Ich war fünf Jahre alt. Meine Mutter trug nicht oft Nagellack, aber wenn es aus dem Badezimmer mal so schön giftig roch, bat ich sie, auch mir die Finger bunt zu machen. Ich liebte das Kitzeln, wenn das Kirschrot trocknete. Es war nichts dabei, wie nichts dabei war, dass ich nicht ohne die Puppe namens Philippa das Haus verließ. Ich spielte, ich wäre alleinerziehender Vater aus Helmstedt. Ich kannte den Namen der deutsch-deutschen Grenzstadt aus der Tagesschau, Helmstedt klang nach einem Ort, an dem Väter allein waren.
Nur nach Florida hatte ich Philippa, weil sie sehr groß war, nicht bringen dürfen. Dort, auf dem warmen Asphalt einer suburbanen Wohnsiedlung, geschah es, dass ein Junge in einem Bart-Simpson-Shirt, er hieß Jason, die rotlackierten Nägel meiner rechten Hand entdeckte und rief: »Look at you, little princess!« Leider verstand ich aus familiären Gründen gut Englisch. Ich floh, erschrocken von der Scham, die mich überkam. Jason und seine Vorstadtfreunde verfolgten mich. »Girl, where is your doll?«, schrie Jason, als wüsste er von Philippa. Ich wollte etwas entgegnen, aber mir fiel nichts ein. Unter Tränen verlangte ich im Ferienhaus nach Nagellackentferner. Der Jason-Mob johlte draußen. Zurück in Deutschland musste Philippa fortan in Helmstedt bleiben.
Mein Sohn ist heute fast vier Jahre alt, er heißt nicht Philippa, und alleinerziehend bin ich nicht. Seine Mutter lackiert sich oft die Fingernägel, Kirschrot steht ihr besonders. Und so wie er ihren, nun ja, offensiven Autofahrstil auf seinem Bobbycar imitierte, hatte mein Sohn früh Spaß daran, sich gelegentlich ein, zwei oder auch alle Fingernägel von ihr bepinseln zu lassen. Meiner Frau, mit der ich mir eigentlich einig bin, dass Geschlechterklischees in der Erziehung unserer Kinder ebenso wenig zu suchen haben wie Fantasiefeindlichkeit, entging nicht, dass ich davon vom ersten Mal an wenig begeistert war, und als sie mich fragte, was für ein Problem ich mit dem Nagellackieren hätte, sagte ich, es sei absurd, kleine Kinder derart aufzutakeln – egal ob Junge oder Mädchen. Aber das war es nicht, auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte.
Am Wochenende vor dem ersten Krippentag unseres Sohnes, er war damals zwei, lackierte meine Frau ihre Fingernägel. Der Sohn kam und sagte: »Ich auch!« Ich sagte, lauter und schneller, als ich wollte: »Nein!« Mein Sohn sah mich erstaunt an und tat das einzig Richtige, er fragte: »Warum?« Er konnte noch kein »W« und kein »R« sprechen, er fragte: »Lalum?« Meine Frau sah mich sehr gespannt an, und ich antwortete zögernd: »Weil das nicht gut ist für Kinder.« Das genügte meinem Sohn vorerst, Gleiches galt schließlich für Schokolade und Fernsehen.
Ich schäme mich bis heute sehr für diese Antwort. Die Wahrheit wäre gewesen: »Weil ich Angst habe, dass die Eltern deiner Krippenfreunde und die älteren Krippenkinder am Montag gemeine Dinge sagen werden. Weil ich dir das nicht zumuten will. Und mir auch nicht. Weil ich selbst unter dieser Stumpfheit gelitten habe, die wahrscheinlich schon Jasons Vater geerbt hat, und deswegen nun, paradoxerweise, selbst dabei bin, diese Stumpfheit weiterzugeben, gegen meine eigene Überzeugung. Kurzum, mein Sohn: weil ich feige bin.«
Es hat auch etwas Gutes, wenn der Sohn nicht auf alles hört, was der Vater sagt, und so kam recht bald ein Krippenmorgen, an dem seine Nägel bemalt waren. Und es kam an diesem Krippenmorgen recht bald eine Bemerkung, wie ich sie erwartet hatte. Es war der Vater, der den alten Porsche fuhr, der, als er seiner Tochter die Stiefel auszog, meinen Sohn mit süffisantem Grinsen fragte: »Na, hast du dich heute als Prinzessin verkleidet?« Und es war mein Sohn, der die seit fast dreißig Jahren herrschende Stille durchbrach, der stellvertretend meine durch Florida-
Jason erlittene Demütigung beendete, indem er dem Porschevater sein neustes Lieblingswort entgegnete: »Du bist ein Spinner!«
Illustration: Serge Bloch