Es gibt ein paar Tricks, um mit Ereignissen klarzukommen, die einem so richtig auf die Ketten gehen. Und dieser Tage brauche ich die dringender denn je. Dieser Tage geht es darum, dass alle in unserer Familie – Eltern, zwei Teenager-Söhne – seit Januar immer wieder krank sind; alle zusammen kommen wir auf drei mal zehn Tage, vier mal drei und einmal vierzehn; nicht mitgezählt habe ich die ganzen halben Tage, an denen meine Söhne früher aus der Schule heimgekommen sind. Ich habe wegen dieser Krankheitswelle rumgebrüllt und geheult, geholfen hat es nichts. Viel sinnvoller ist es, das ganze mental anzugehen. Zum Beispiel mit folgenden Strategien.
Trick 1) Die antizipierende Erzählperspektive
Es passiert etwas Unvorhergesehenes, sagen wir, die Nachbarwohnung brennt aus, es kommt kein Mensch zu Schaden, aber für alle ist es ein furchtbarer Schreck, und ich sage leicht sarkastisch aufmunternd zu meinen Kindern: Boah, da habt ihr in der Schule aber was zu erzählen! Je abstruser, desto besser für die antizipierende Erzählperspektive, und so lang man mit Schreck und Leben davonkommt, ist alles gut. Allerdings verliert sie ihren Reiz bei mehrmaliger, nein: andauernder Wiederholung ein und desselben beschissenen Ereignisses – zum Beispiel eines grippalen Infekts, den außer einem selbst noch die halbe Stadt hat. Da wird die antizipierende Erzählperspektive so lahm wie ein zehn Stunden abgekauter Pfefferminzkaugummi.
Trick 2) Das relativierende Katastrophenszenario
Es ist nur eine Erkältung. Es ist keine lebensbedrohliche oder chronische Krankheit, alle werden wieder gesund. Wir müssen nicht ins Krankenhaus. Wir sind nicht im Krieg. Wir müssen nicht hungern, nicht fliehen, wir haben ein Dach überm Kopf und ein kuschliges Bett, es ist warm und wir trinken jetzt mal wieder einen Halstee mit Honig, wir köcheln mal wieder ein Kraftbrühchen, wir geben mal wieder der Schule Bescheid, wir hängen mal wieder Tage lang auf dem Sofa und vor dem Bildschirm rum, wir reiben mal wieder den Tigerbalsam auf Brust und Hals und wir ducken uns vor den Virenwolken weg, die in immer kürzeren Abständen und Tiefflug über unsere große Stadt wehen und alle Kinder von Kita, Schule, Fußballplatz nachhause wirbeln. Und den Papa auch. Nur die Mama nicht, komisch. Aber einer muss die Katastrophe eben händeln, the hero: one woman standing. Ironie hilft bei Katastrophen auch. Nur dass man nach diesem Winter so unspritzig ist wie Sprudel, der vier Tage lang offen neben dem Bett eines kranken Kindes stand.
Trick 3) Der generalisierende Faktencheck
Wenn die Großeltern zum 37. Mal mit diesem entrüsteten, kopfschüttelnden Ton in der Stimme aus ihrer von Viren, U-Bahnen und Rotzansammlungen fernen Dorf-Isolation – durchs Telefon, klar – zuraunen: Wir waren ja als Kinder nie krank, was ist nur los mit euch? Wenn die Freundin einem zum 37. Mal mitleidsvoll über den Kopf streichelt und nuschelt: Hab ich ein Glück, du Tapfere, meine gehen höchstens mal einen Tag nicht in die Kita/Schule. Wenn man beginnt, an sich selbst zu zweifeln – verweichlichte Gene, lasche Erziehung, schlechte Ernährung, krank machendes Raumklima, gestresste Eltern, falsche Schulwahl, mangelnder Mut zum Auswandern in menschenfreundlichere Weltregionen, um den Kindern ein gesundes Leben zu ermöglichen –, dann sollte man zum Arzt gehen. Aber zum richtigen. Der eine Autorität darstellt. Und einem sagt, was man hören will. Mir hat eine Kinderärztin der Charité – sehr nett, echte Koriphäe – gesagt, in diesem Winter sei es besonders schlimm. Sehr viele grippale Infekte. Auch ihre eigenen drei Kinder: andauernd krank. So viele Fehlzeiten wie nie in der Schule. Kann man nichts machen. Geht vorüber.
Trick 4) Die kausalisierende Verschwörungstheorie
Weil der Mensch gern einen Grund hätte für das Unabänderliche, für Zufälle, Tod, Erkältungen. Und ich gebe zu, wenn ich abends erschöpft im Bett liege, habe ich auch schon überlegt: Es waren Labore, es ist die Pharmaindustrie, es sind die Außerirdischen, die Russen, die Rechten, die Wahrnehmung, Umweltgifte, Magnetfeldstörungen, Antibiotika, Diesel-Abgase, Killerviren, Gluten. Aber ich habe Trick 5 lieber.
Trick 5) Die demütige Fügung in den offenbar unabänderlich viralen Gang der Dinge
Es ist nur eine Kopfsache. Alles wird gut. Wir müssen da durch. Es geht vorbei. Der Frühling kommt irgendwann. Bisher kam er noch immer.
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