Das Leben ist ein Wunschkonzert

Erika Heck hält dem Festspielhaus seit 1921 die Treue - und sich selbst für ein bisschen verrückt.

Niemand war so oft in Bayreuth wie die 92-jährige Erika Heck. Sie kennt jede Oper, jede Melodie. Zu singen traut sie sich aber nur im eigenen Wohnzimmer. Am liebsten: »Tristan und Isolde«..

Den Festspielhügel runter, immer die Allee entlang, da wohnte meine Familie. Als Schulkinder spielten wir oft dort oben auf dem Berg – es ist ein wunderschöner Ort. Meine Mutter hat uns immer gemahnt: »Schreit nicht so, wenn ihr ums Theater rennt, ihr stört die Proben.« Also bin ich ganz vorsichtig ums Haus geschlichen und habe gelauscht, was da für Töne rauskommen.

Einmal sprach mich ein Mann an. Er wollte wissen, warum ich hier auf Zehenspitzen herumlaufe. Statt zu schimpfen, nahm er mich bei der Hand und führte mich ins Festspielhaus. Damals sahen alle Leute schon zu den Generalproben sehr elegant aus, und sogar der König von Bulgarien war da. Ich schämte mich so sehr in meinem kurzen Kinderkleidchen, dass ich die Beine auf den Stuhl stellte, das Kleid über die Knie zog und hoffte, dass so niemand bemerkte, dass es nicht bodenlang war.

Der Mann, der mir den Platz angeboten hatte, war Siegfried Wagner, der damalige Festspielleiter und Sohn Richard Wagners. Aber das interessierte mich damals gar nicht, ich war ja erst sieben Jahre alt und viel zu sehr mit meinem Kleid beschäftigt. Und mit der wunderbaren Musik. Seit diesem Moment im Sommer 1921 bin ich infiziert: Ich werde den Wagner-Virus nicht mehr los.

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In Bayreuth fühle ich mich wohl, da ticken alle wie ich. Wir sitzen Jahr für Jahr im Festspielhaus, mit Gänsehaut und mit Tränen in den Augen, weil die Musik auch beim hundertsten Mal Hören noch so überwältigend wirkt. Inzwischen kenne ich natürlich alle, die regelmäßig zu den Festspielen kommen. René Kollo und Loriot sind beispielsweise richtig gute Bekannte geworden. Ich sitze seit Jahren auf demselben Platz: Erste Reihe, Parkett Mitte. Wenn ich nach so einem wunderbaren Opernabend noch bis morgens um vier zusammen mit Sängern und Freunden in der Kneipe feiere, sage ich oft: »Ihr wisst schon, dass wir alle ein bisschen spinnen.«

Einmal habe ich Karajan beim Spazierengehen getroffen. Er kam mir bekannt vor, aber ich dachte, er sei ein alter Mitschüler von mir. Er half mir dann mit dem ungezogenen Hund meiner Tante. Auch Angela Merkel kannte ich, lange bevor sie Kanzlerin wurde – als fröhlichen Menschen übrigens. Nicht mit diesen heruntergezogenen Mundwinkeln, wie sie heute immer gezeigt wird. Sie kennt sich übrigens sehr gut aus mit Wagner. Das ist nicht selbstverständlich bei all den Leuten, die sich auf dem Hügel herumtreiben: Die haben oft keine Ahnung und wollen nur gesehen werden. Sehr albern.

In den späten zwanziger Jahren fiel mir einmal bei einer Generalprobe ein Mann auf. Er trug nicht wie alle anderen einen Smoking, sondern einen dunkelblauen Anzug, der aussah, als sei er von der Konfirmation übrig geblieben. Ich war entsetzt. Um ihn herum standen lauter Französinnen, die nannten ihn »Eilitler«. Meine Mutter erklärte mir später, dass dieser unscheinbare Mann ein Österreicher war, der Adolf Hitler hieß und sich mit »Heil Hitler« ansprechen ließ.

Sogar Cosima, Richard Wagners Frau, habe ich noch gekannt. Ich sehe sie noch vor mir, im Rollstuhl, einen Kugelschirm über sich aufgespannt, egal bei welchem Wetter. Bei ihrer Beerdigung 1930 standen wir Schulkinder Spalier. Die vier Wagner-Enkel wurden damals natürlich sehr verwöhnt. Fans schickten ihnen Geschenke aus der ganzen Welt. Einmal, es muss 1926 gewesen sein, bekamen sie Tretroller aus Amerika – richtig gute, verchromte, mit Gummireifen. Der Wieland flitzte damit den Hügel runter und die Buben aus meiner Klasse wollten auch mal fahren. Aber da hat er nur eine Geste mit der Hand gemacht, als ob er sagen wollte »Geht weg, ihr Menschlein!«, und ist davongerollt. Die Verena und der Wolfgang waren gutmütiger. Ich bin froh, dass Wolfgang sich hier um alles kümmert. Er ist so tüchtig.

Wolfgangs Mutter Winifred bat in den Pausen immer zum Tee in einem ihrer Räume im Festspielhaus. Einmal, es muss in den fünfziger Jahren gewesen sein, sagte sie zu mir: »Wenn Sie ein Badezimmer benutzen wollen, werden Sie doch nicht dort hingehen, wo alle sind. Gehen Sie lieber in den kleinen Raum gegenüber.« Also bin ich dorthin, um mir die Lippen nachzumalen. Ich war schon ein bisschen eitel damals. Und als ich so vor dem Spiegel stand, kommt doch plötzlich die Begum mit ihrer Gesellschaftsdame herein und bittet mich, ob sie schnell vor mir auf die Toilette dürfte. Durfte sie. Ich war pikiert, weil die Gesellschaftsdame zuerst hineinging und dann erst die Begum, das fand ich unanständig. Aber als die Begum mir dann die Klotüre aufhielt und ich noch überlegte, wie sie das wohl immer hinbekommt mit dem Sari, umhüllten mich schon fernöstliche Wohlgerüche und ich verstand die ganze Prozedur: Die Gesellschaftsdame hatte alles, die Böden, die Wände und den Türgriff mit einem fantastischen Parfum besprüht. Eine Mischung aus Kirche und Orient. Zurück auf meinem Platz sprach mich der Schauspieler Hansjörg Felmy an: »Sie müssen mir sofort Ihr Parfum verraten!« Der Duft hatte sich in meinem Petticoat verfangen. Ich sagte nur: »Fragen Sie die Begum.« So ging es den ganzen Abend. »Eri, verrat uns dein Parfum!« Ich habe immer nur gesagt: »Fragt die Begum!« Daraus wurde über viele Jahre ein geflügeltes Wort.

In den letzten Jahrzehnten wird in unserer Runde von treuen Wagnerianern auch viel geschimpft: Die Inszenierungen passen oft nicht zur Musik, von Werktreue kann keine Rede mehr sein. Aber ganz ehrlich: Es ist nicht die Aufgabe der jungen Regisseure, eine 92-jährige Dame zu begeistern. Als Patrice Chéreau 1976 den Jahrhundert-Ring inszenierte, waren wir auch alle erst mal stinksauer, doch als er das letzte Mal gegeben wurde, applaudierten wir eine Stunde lang.

Den Christoph Schlingensief zum Beispiel finde ich einen reizenden jungen Mann. Aber seine Parsifal-Inszenierung hat für mich nicht mehr viel mit dem zu tun, was Richard Wagner wollte. Ich sage den Regisseuren auch mal direkt, was ich denke. Die müssen die Kritik vertragen, die machen das doch schließlich fürs Publikum.

Bei meinen ersten Besuchen im Festspielhaus waren die Französinnen die Schicksten im Publikum: mit grünen Fingernägeln und grünen Perücken. Ich habe mir damals vorgenommen, dass ich einmal sehr reich sein möchte, um während der Festspiele auch mit grünen Haaren herumzuspazieren.

Seit meiner Hochzeit 1933 lebe ich in Mann-heim, mein Mann hatte dort eine Arztpraxis. Die Ausflüge nach Bayreuth sind seitdem für mich etwas ganz Besonderes. Und natürlich trage ich an den sieben Tagen, die ich auf den Festspielen bin, immer etwas anderes. Letztes Jahr habe ich festgestellt, dass ich die Sachen aus den siebziger Jahren wieder gut anziehen kann: etwa den eleganten Hausanzug, den ich mir mal in St-Tropez gekauft habe. Mein Tipp nach all den Jahren: Am besten beraten ist man mit einer schwarzen oder einer weißen Smokinghose, ein aufregendes Oberteil dazu – perfekt.

In ein paar Tagen ist es wieder so weit, mal sehen, was ich diesmal erlebe. Die harten Holzstühle im Parkett und das stundenlange Sitzen bei 50 Grad im Festspielhaus – das alles stört mich nicht, da bin ich gänzlich unempfindlich. Ich spüre nur noch die Töne.