Völlig verrückt, dass diese Filmfirma auf ihn gekommen war. Diese Frau hatte ihn angesprochen, vorm »Superfly« am Adenauerplatz, wo er bis um 22 Uhr hindurfte, er war ja gerade 15 Jahre alt. Ihr Name sei Monika Eichinger, hatte die Frau gesagt, er kenne doch dieses Buch: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Ja, Thomas Haustein kannte es, einige Mädchen, die cooleren, die schon mit Busen, hatten es auf der letzten Klassenfahrt dabeigehabt. Er hatte es aber nicht in die Hand bekommen.
Das Buch werde verfilmt, fürs Kino, sagte Frau Eichinger. Ob Thomas sich vorstellen könnte, da mitzuspielen. Nun ja, eigentlich schon, dachte sich Thomas. Zum ersten Casting kam sein Vater noch mit: nicht dass sein Sohn in die Hand von Perversen gerät. Danach hing Thomas' Polaroid an der Kandidatenwand, die Wochen gingen dahin, Thomas sah, wie die Konkurrenten schwanden. Und dann wurde er tatsächlich genommen. Thomas Haustein ahnte nicht, dass nun nichts mehr sein würde wie zuvor.
Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Das Buch war ein Bestseller, der Film ist deutsche Filmgeschichte. Eine Sensation ohne große Namen, gedreht mit Jugendlichen; in Deutschland kamen fast fünf Millionen Zuschauer, im schwierigen Markt Frankreich spielte der Film sechs Millionen Dollar ein, beim Filmfest in Montreal wurde er als »Most Popular Film« ausgezeichnet. Das Fachblatt Variety schrieb vom »großen Durchbruch« des neuen deutschen Films im Ausland; das »F« im Filmtitel stehe für Fabulous.
Drei Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Thomas Haustein, der eine der beiden Hauptrollen spielte, Detlef, hat seinen Platz im Leben gefunden, er ist Vater eines Jungen, er ist Sozialpädagoge, Suchtberater; doch dieses Jahr 1980 und die Zeit danach liegen noch offen in ihm, er denkt und spricht darüber wie ein Erwachsener, aber er fühlt dabei wie damals der 15-Jährige. Seit Tagen ist er aufgewühlt, freut sich. Heute wird Natja ihn besuchen, Natja Brunckhorst, die Christiane F spielte. Schon Minuten vor dem Treffen steht er am Fenster und schaut hinaus. Auch in seiner Arbeitsstelle, in der sind alle aufgeregt. Sie wussten tatsächlich nicht, wer da seit vielen Jahren mit ihnen arbeitet, Thomas hat es ihnen gestern erst verraten, sogleich gab es eine Rundmail in der »Integrativen Suchtberatung« in Lichterfelde, Berlins erster Beratungsstelle für Drogenkranke, 1972 gegründet von der Caritas. Auch Christiane F. wurde hier beraten, das hat Thomas auch erst gestern von seiner Chefin erfahren. Er glaubt es selbst kaum: Irgendwie, sagt er, schließt sich der Kreis.
Es wird das erste Treffen der beiden seit 36 Jahren. Wie Thomas hatte Natja sich für die Rolle nicht beworben, sie wurde nicht vor der Disko, sie wurde in der Schule angesprochen. Sie war erst gar nicht als Christiane vorgesehen, sie sollte Christianes kleine Schwester spielen. Doch der Produzent Bernd Eichinger fand einfach keine rechte Christiane, 2000 Mädchen hatten sie gecastet, die Favoritin war absurde 26 Jahre alt.
Der Regisseur Uli Edel drehte eine Aufnahme, in der alle Mädchen in einer Reihe standen und dann auf die Kamera zugingen. Und alle schauten nur auf Natja. »Uli, warum nimmst du nicht die?« - »Ich weiß nicht, die ist zu jung.« - »Nein, die isses.« Diese dünne, blasse Kindfrau hatte hinter den Augen, was Christiane ausstrahlen sollte: Einsamkeit, Traurigkeit, Krankheit. Natja war ja auch einsam und traurig, und wie man krank spielt, wusste sie gut, sie war schon vor dem Film ein verstörtes, scheues Mädchen. Als der Film dann heraus kam, als diese Welle über sie hereinbrach, wie Natja es nennt, begann aber erst ihr wahres Leiden. Lange hat die Autorin und Regisseurin gebraucht, um sich von dieser Erfahrung und Vergangenheit zu befreien. Und so fährt sie heute mit gemischten Gefühlen zu Thomas hin, still und mürrisch sitzt sie im Taxi. »Wie Thomas heute wohl aussieht?«, sagt sie auf einmal in die Taxistille hinein. In ihrem Kopf, vor ihrem inneren Auge ist er noch 15 Jahre alt.
Eine kurze Weile verharrt sie noch auf dem Trottoir vor Thomas' Suchtberatung. Dann los. Sie tritt in die lange Einfahrt, ihr Rollkoffer rappelt hinter ihr übers Pflaster, das Eisentor schlägt zu. Sie geht und sieht, wie ein Mann aus dem Eingang tritt, sie verlangsamt den Schritt, der Mann bleibt sogleich stehen. Wie zögerlich sie geht, den Blick geradeaus, das Gesicht ohne Regung. Einen Meter vor ihm bleibt sie stehen. Pause. Er macht den Schritt vor. »Schön. Schön, dich zu sehen.« Er drückt sie an sich. »Lang ist es her«, sagt sie.
36 Jahre. Zwei Leben, die ganz verschieden verliefen, und doch durch diesen einen Film geprägt und aneinander gefesselt sind. Wie ihr Wiedersehen verlief, wie sie Erinnerungen tauschen, warum der Film Thomas vor einen Drogenkarriere bewahrt hat und Natja Brunckhorst Christiane F ewig dankbar ist, lesen sie hier mit SZPlus:
Foto: Tobias Kruse