37

Mädels, wie die Zeit vergeht! Für Kinder ist es bald zu spät. Über das entscheidende Jahr im Leben einer Frau.

Anmerkung: Am 14. August 2010 verstarb Sabine Magerl, Autorin dieses Textes, im Alter von nur 43 Jahren. Sabine hat das SZ-Magazin und das jetzt-Magazin viele Jahre lang als Autorin und Redakteurin geprägt. Wir sind bestürzt über ihren Tod und werden sie und ihre journalistische Arbeit stets in Erinnerung behalten.

Meine Krise begann mit einer Statistik, mit ein paar blanken Zahlen. Mehr als vierzig Prozent der Akademikerinnen hierzulande, las ich in der Statistik, sind kinderlos. Das wissen wir doch, dachte ich. Darüber wird im Moment viel geschrieben, viel gesprochen – der »demografische GAU« wird das immer genannt. An jenem Tag aber, an dem ich in die Statistik blickte, stach mir diese Zahl mitten ins Herz. Es war mein 37. Geburtstag. Mir wurde klar: In dieser Statistik, da ging es um mich, um so viele in meinem Freundeskreis: Ich, wir, waren Teil eines ziemlich deprimierenden Zahlenwerks – Teil dessen, was in Deutschland als Grundübel unserer überalternden Gesellschaft erkannt wird.

Plötzlich war klar: Ich war schuld. Aber warum? Hatten wir nicht alles richtig gemacht? Studieren, arbeiten, Beziehungen führen, Beziehungen beenden, umziehen, Job wechseln, das Leben genießen, manchmal an die Zukunft denken und das Ganze immer wieder von vorn. Gefangen in den unendlichen Möglichkeiten. Und davon hieß nur eine »ein Kind«, klar, irgendwann, später. Ein Kind erschien uns selbstverständlich, bis es plötzlich sehr, vielleicht zu spät war.

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Lag es an der Zeit, in der wir geboren waren? 1968. Manche unserer Lehrer waren noch nackt auf Bäume geklettert, um sich oben in der Baumkrone von den Restriktionen der bürgerlichen Gesellschaft frei zu küssen. Eigentlich hatten wir mit den Achtundsechzigern wenig gemein. Die meisten unserer Eltern schlugen sich ja geradlinig durchs Leben. Doch wir wollten Abenteuer. Die konservative Generation Golf begann erst zwei Schulklassen unter uns. Wir gehörten nirgendwo so richtig dazu und trotzdem schien uns alles offen zu stehen. Wir kühlen Achtziger-Jahre-Jugendliche gingen sorglos in die Zukunft, wollten romantische, fordernde Liebesbeziehungen – irgendwas Erlesenes. Bis wir aus unserer Selbstverwirklichung aufwachten, waren wir Mitte dreißig und die Gegenwart hatte uns eingeholt: Die wirtschaftliche Krise und eine unbeantwortete Kinderfrage.

Plötzlich, mit 37, stand man also wieder wie am Anfang: Als hätte jemand die Reset-Taste gedrückt. Was war passiert? »Wir wurden umprogrammiert«, sagte Frank Schirrmacher kürzlich im Spiegel. Fehlgeleitete materielle Schlüsselreize hätten in die menschliche Biologie eingegriffen, wir hätten vergessen, worum es beim Leben und Überleben geht: die Familie, die Kinder. Draufgänger ohne Familienbindung, so steht es in Schirrmachers neuem Buch Minimum, waren historisch gesehen schon immer die ersten Opfer von Krisen und Katastrophen. Nicht nur, dass wir höllische Egoistinnen einer Genussgeneration wurden, die gewaltig zu den Problemen eines kinderarmen Sozialstaats beiträgt – nein, wir werden auch schlicht nicht überleben beim nächsten Hotelbrand, der nächsten Überschwemmung oder Sintflut. Weil Freunde eben doch nicht die neue Familie sind und uns unser metrosexueller Kumpelfreund niemals mit ins Beiboot nehmen würde. Während die Großfamilien gemütlich abtuckern.
Aber kann man eine gesellschaftliche Entwicklung auf Biologie reduzieren, wenn man gerade erst einer Frauengeneration, die weder feministisch noch traditionell verankert war, beigebracht hat, dass sie arbeiten darf? Dass wir Kinder bekommen sollten und könnten, das wussten wir schon vor fünfzig Jahren. Schön, dass jetzt Männer kommen und im Zuge ihrer neu propagierten Bürgerlichkeit uns wieder daran erinnern.
Job & Kind: Zunächst erschien uns das Unterfangen so einfach, wie von all den Titelzeilen auf all den Frauenzeitschriften suggeriert. Aber irgendwann in unserem Lebenslauf inmitten all der Selbstverwirklichung verschwand der Kind-Teil des Job&Kind-Programms und ward lange Zeit nimmer gesehen. Dabei hatte meine Mutter diesen Teil noch als »das Normalste der Welt« bezeichnet.

Mit Anfang dreißig, muss ich sagen, dachte ich noch gar nicht an Kinder. Einmal meinte eine Kollegin, die schwanger wurde, zu mir: Eigentlich passt es nie. Warum nicht jetzt? Ich weiß noch, wie mir nur ein Wort einfiel: später. Man hatte doch so viel Zeit. Mit Anfang dreißig war man noch keine 35. Mit 35 noch lange keine vierzig. Aber mit 37?
Vor zwei Jahren saß ich mit meinem damaligen Freund in der Küche, wir waren sehr still an diesem Morgen. Am Abend zuvor hatten wir ein Paar besucht, deren Welt nun klar definiert war und einen Namen hatte: Alexander, drei Monate alt. Wir hatten keinen Namen für unser gemeinsames Leben, nicht geheiratet, irgendwie auch kein Ziel, wir waren nirgendwo angekommen. Vermutlich spürten wir beide plötzlich diesen Verlust, der über die Jahre, die so schnell waren, schleichend gekommen war. Und nun war daraus eine Leere geworden, die sich auch nicht mehr durch Gespräche schließen ließ. Eigentlich wollten wir beide eine Familie, doch geplant hatten wir das nie, darüber geredet selten. Es sollte immer alles perfekt sein, die Wohnung, der Job, das Zusammensein, man lebte auf einer permanenten Baustelle. Und nun war es zu spät, nochmals von vorn anzufangen, zu spät auch für unsere Beziehung.

Wie viele Paare sich wohl wegen der Kinderfrage trennen? Auf jeden Fall scheint es eines der größten Tabus unserer Generation zu sein, die Frage, warum man kein Kind hat. Darüber spricht niemand gern, und wenn, dann bitte ohne Namen. Vielleicht hätte ein Kind bedeutet, endlich erwachsen zu werden. Und damit ließen wir uns Zeit. Aber wenn es dann langsam zu spät wird?
Die Antworten sind bitter. Eine heißt Kinderwunschklinik. Da geht hin, wer sein Leben in letzter Sekunde retten will – als könnte man sich den Nachwuchs noch termingerecht bestellen, so wie wir es mit unseren Steuervergünstigungen immer gemacht haben, gerade noch rechtzeitig vor Ablauf der Frist. Allein im Jahr 2003 stieg die Zahl der Kinderwunschbehandlungen in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel an. Ich begleite also eine Freundin zur Fertilitätsklinik in Berlin, am Gendarmenmarkt. Die Freundin ist froh, dass sie nicht allein gehen muss. Als ich in dem Wartezimmer sitze, verstehe ich, warum: Die Praxis strahlt zwar den Charme eines Wellness-Hotels aus – sanfte Musik, Aquarium, Yoga-Broschüren –, und doch hängt in diesen Räumen eine Art kollektive Verzweiflung, die auch das gedimmte Licht nicht übertünchen kann. Man vermeidet Blickkontakt, denn man würde nur in das eigene Gesicht blicken, das Gesicht einer Generation, die sich nun fragt: Warum erst jetzt?
Meine Freundin sagt, dass sie nach jedem dieser Besuche heult. Noch aus dem Behandlungszimmer schickt sie eine SMS an ihren Freund: Wieder nicht. Sie hatte neue Hormonflüssigkeit bekommen, die sie sich täglich mit einem Gerät, das wie ein Schraubenzieher aussieht, durch die Haut in den Bauch schießt. Jetzt geht also alles wieder von vorn los, wieder ein neuer Monat, wieder neue Präparate, neue Hoffnung. Das geht so seit einem halben Jahr. Immer öfter merkt sie, wie sich dabei ihr Gemüt langsam verdunkelt, vielleicht eine Nebenwirkung der Präparate. Vielleicht aber auch Ergebnis dieses wiederkehrenden Gedankens, dass es irgendwann zu spät ist, definitiv, endgültig.
Meine Freudin will darüber mit ihrem Freund nicht sprechen. Sie sagt: »Unsere Liebe hat gelitten. Es geht um den pünktlichen Eisprung und nicht mehr um Leidenschaft. Ich weiß nicht, wie lange wir das durchstehen, diesen technischen überwachten Wettlauf mit der Zeit.« Wie sind wir in diesen Wettlauf überhaupt geraten? Der Soziologe François Höpflinger von der Universität Zürich sagt über meine Generation, wir seien »Spätzünder«. Dass wir heute 30- bis 39-Jährigen so kinderlos sind, das zeigten Umfragen, liege daran, dass wir oft trotz unseres fortgeschrittenen Alters immer noch nicht den richtigen Partner gefunden hätten, dass wir zu lange unabhängig bleiben wollten.
Auf einer Krisensitzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung rätselten kürzlich Experten über die »deutsche Kinder-Dürre«. Die neuesten Erkenntnisse dazu liefert der Soziologe Thomas Klein von der Universität Heidelberg. Sie sind wahr und banal zugleich: Es liege an der »Instabilität der Beziehungen«, erklärte Klein in seinem Vortrag, denn in neuen Beziehungen müsse der Kinderwunsch immer wieder erst entstehen. Immer wieder. Und immer wieder von vorn.
»Reset« sei ein gutes Wort für das Bauchgefühl unserer Generation, sagt eine andere Freundin. Ich hole sie ab, wir wollen ausgehen, sie tippelt auf hohen Absätzen ins Bad, schminkt sich. Alles ist wie früher und so oft erlebt. Ich sitze auf der Couch und warte. Wie oft sind wir schon in Bars oder Clubs gewesen? Und was haben wir dort von einem auf das andere Mal gesucht? Westbam, der Berliner DJ, hatte mal die Losung »We never stop living this way« ausgegeben und dies als etwas Erstrebenswertes erscheinen lassen. Aber ist es das? Und glauben wir wirklich noch daran, dass wir zwischen zwei Gläsern Wein den Traummann finden? Oder die neue Telefonnummer, in eine Zigarettenschachtel gekritzelt, nicht verlieren – bis wir uns schließlich zum hundertsten Mal fragen, ob der erste Freund nicht vielleicht schon der richtige war.

Aus dem Bad sagt meine Freundin, sie werde das Thema nun viel ökonomischer angehen. Zu oft sei sie mit Männern zusammen gewesen, die noch nicht reif waren für die Kinderfrage. Und natürlich hätte sie auch nie gefragt. »Der Nächste muss es sein«, sagt sie. Die Suche nach dem richtigen Mann werde sie nun mindestens so ernsthaft und professionell betreiben wie einen Job. Oft sitzt sie bis spät in die Nacht vor dem Computer, Stunden zwischen Glück und Verzweiflung in den Chaträumen von Internet-Partner-Börsen, bis sie sich dann traut zu fragen: »Wie denkst du über Kinder?« Sie sagt: »Das ist doch eine gute Technik, um nicht dauernd sein Herz an den Falschen zu verlieren.«
An diesem Abend sehe ich unserer Generation dabei zu, wie sie versucht etwas nachzuholen, was ihr langsam entgleitet. Eine Party für Singles, Menschen über dreißig zahlen keinen Eintritt. Eine Stimmung wie kurz vor dem Kehraus. Wer hier niemanden findet, und sei es nur für eine Nacht, der braucht sich keine weiteren Illusionen über sein Leben zu machen. Jetzt oder nie. Oder wie Harald Schmidt mal über die Frauen ab 35 in seiner Branche sagte: »Die haben mit Glück einen One-Night-Stand mit einem Beleuchter, sozusagen Last Minute in Sachen Kinderwunsch.«
Ich habe das in den Gesprächen für diese Geschichte erschreckend oft gehört: die Hoffnung auf eine Affäre, Sex am richtigen Tag. »Dann wäre ich nur eine mehr von den vielen allein erziehenden Müttern«, sagt eine der interviewten 37-Jährigen. »Hauptsache, dass ich es noch geschafft habe. Ein Kind. Sonst würde mir etwas fehlen, ich würde unglücklich werden.« Sie ist nicht die Einzige. Dass sich Akademikerinnen bewusst gegen ein Kind entscheiden, angeblich ein Drittel – so behaupten es die Statistiken –, habe ich in den Interviews nie gehört. Ich hörte nur von Tränen, schlaflosen Nächten, Depressionen, Psychotherapie, der Angst, die Zeit für ein Kind endgültig zu verpassen.
Aber man wollte doch nie auf etwas verzichten. Obwohl die 1968 Geborenen mit den Achtundsechzigern wenig gemein hatten, war der Gedanke doch präsent: Ein Kind könnte eine Belastung sein. Verwirkliche dich erst mal selbst! Zugleich bescheinigt der Soziologe Ulrich Beck den gleichaltrigen Männern eine »verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre«. Was heißt: Man konnte gut für die Emanzipation sein, denn zwecks Gleichberechtigung musste man auch keine Verantwortung übernehmen. Ein Kind hätte Verantwortung bedeutet. Da entwickelte die Generation der 68-Geborenen sich selbst wunderbar aneinander und der Kinderfrage vorbei.
Und nun gibt es das bittere Erwachen, Reset, in einer wirtschaftlichen Krise, wenn der Job kein Halt mehr ist. Aber eine Familie könnte Halt geben. Das ahnen wir langsam und verfallen in eine kollektive Torschlusspanik. Die Mitte-Zwanzig-Jährigen haben das vermutlich längst erkannt, dachte ich kürzlich. Ist doch genau richtig: ein Kind in einem alten, runden Kinderwagen aus der Zeit des Wirtschaftswunders durch das angeschlagene, arbeitslose Berlin zu schieben.