Unsere Autorin Michèle Roten und ihre Mutter Erika.
Irgendwas muss falsch sein bei mir: Menschen wird ja oft die Frage gestellt: Wer ist dein Held oder deine Heldin? Klingt nach einer offenen Frage, tatsächlich scheint es aber nur eine richtige Antwort zu geben. Sie ist magisch, sie funktioniert überall und immer, sie macht sogar Bushido sympathisch und lässt ein Hollywoodluder geerdet erscheinen. Die Antwort lautet: meine Mutter. Das ist bei mir nicht so.
Meine Mutter ist nicht meine Heldin, sie ist auch nicht mein Vorbild. Meine Mutter hat nicht meine fünf Geschwister und mich mit sieben Jobs durchgefüttert, nachdem der alkoholkranke Vater mal eben Zigaretten holen gegangen war. Sie hat sich nicht aus einem repressiven Umfeld freigekämpft und dann eine sensationelle Karriere gemacht. Sie hat mich nicht eingeführt in, sie hat nicht mein Interesse geweckt für, sie war nicht der Grund, warum ich.
Meine Mutter ist auch nicht meine beste Freundin, noch so eine richtige Antwort.
Immer wenn ich also von diesen Müttern las, dachte ich: Irgendwas muss falsch sein bei mir. Liebe ich meine Mutter zu wenig? Bin ich undankbar? Warum stimmt bei mir die richtige Antwort nicht? Bis mir irgendwann auffiel, dass alle Begründungen, warum andere Mütter so heldenhaft sind, männliche Eigenschaften betonen. Eine Frau ist eine Heldin, wenn sie ihren Mann steht, wenn sie kämpft, für oder gegen etwas. Dieses Bewertungssystem funktioniert bei meiner Mutter nicht.
Denn das Leben hat es gut mit ihr gemeint und ihr keine allzu großen Steine in den Weg gelegt, und ich werde den Teufel tun, das zu bedauern. Sie hatte nie »ihren Mann zu stehen«, und das passt schon, ist sie doch vor allem eins: kein Mann. Sie ist das Gegenteil von einem Mann, sie ist, was kein Mann je sein kann. All das, was so schön ist an Frauen: Kichern. Grundlose Melancholie. Plötzliche Stimmungsumschwünge. Ehrliches Interesse an den Gefühlen anderer. Nervöse Hände. Albernheit. Diskrete Beharrlichkeit. Empathie.
Meine Mutter ist eine ganz normale Frau.
Meine Mutter ist, dass in unserem schlecht beheizten Haus eine Wärmflasche in meinem Bett lag, wenn ich nachts von der Bandprobe nach Hause kam.
Meine Mutter ist die Erfindung des Sahne Macchiato, nachdem ich mit dem Auto eine Katze überfahren hatte und weinend am Küchentisch saß. Meine Mutter ist, dass ein Kerzchen brennt, wenn ich eine Prüfung habe. Meine Mutter ist, dass sie mich von pubertären anorektischen Anwandlungen heilte mit dem Satz: »Ich kann nicht mehr.«
Meine Mutter ist, dass sie sich meine Tätowierungen schöngeredet hat.
Meine Mutter ist, dass ich tatsächlich daran glaube, dass man ein Leben lang mit ein und demselben Mann glücklich sein kann. Meine Mutter ist, »wir schenken uns nichts zu Weihnachten«, und dann gibt es doch was. Meine Mutter ist der geschmückte Stuhl des Geburtstagskindes am Frühstückstisch. Meine Mutter ist Liebe, die sich in Putzen äußern kann.
Meine Mutter ist, dass ich ihr trotzdem immer wieder glauben werde, dass meine Nase nicht zu groß ist, obwohl ich sie mal diesbezüglich zu meiner Schwester frotzeln hörte: »Na ja, vielleicht ein bisschen groß.«
Meine Mutter ist nicht meine Heldin und nicht meine Freundin. Meine Mutter ist meine Mutter. Und somit das Beste, was meine Mutter sein kann.