Der Fluch der guten Tat

In dieser Straße in München prügelten vor neun Jahren Neonazis einen Menschen fast zu Tode - bis Taner G. eingriff. In sämtlichen Medien wurde er als Held gefeiert. Dann verlor er die Kontrolle über sein Leben.

Ob er es wieder tun würde? Einem Menschen das Leben retten, sein eigenes dabei in die Waagschale werfen? »Warum sollte ich?«, fragt Taner G. »Was ist denn dabei herausgekommen? Nur Schlechtes!«

Es war die Nacht zum 13. Januar 2001, in der Taner G. seinen Alltag verlor: Gemeinsam mit Freunden hatte er den Abend in der türkischen Taverne »Palet« verbracht, München, Zenettistraße 37. »Es hört sich komisch an«, sagt Taner neun Jahre später, »aber wir haben uns noch darüber unterhalten, dass man in München als Türke keine Angst haben muss.« Was für ein Irrtum.

Zur gleichen Zeit feiern auf der anderen Straßenseite in der Gaststätte »Burg Trausnitz« rund 60 Neonazis. Nachts um eins geht der Grieche Artemios T. durch die Straße, als eine kahl geschorene Frau auf ihn zukommt. »Ausländerarschloch«, sagt die Frau und schlägt ihm den Ellenbogen ins Gesicht. Von hinten tritt ihm jemand gegen den Kopf, der Grieche fällt zu Boden. »Wie einen Fußball haben sie seinen Kopf getreten. Immer wieder«, erinnert sich Taner. Sein Cousin Erkan und er greifen ein. Erkan schreit, Taner nutzt das kurze Zögern der Schläger, um das Opfer in einen Hauseingang zu schleifen, den eine Anwohnerin schnell öffnet. Mehr und mehr Skinheads strömen aus dem Lokal, von gegenüber kommen weitere Türken, um zu helfen. Bald machen die Skinheads Jagd auf die Türken. Erkan rennt nach links, Taner nach rechts – der Polizei in die Arme. »Das war mein Glück!«

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Wie schrecklich so eine Situation ausgehen kann, zeigt die Geschichte von Dominik Brunner, der ziemlich genau vor einem Jahr zu Tode geprügelt wurde, als er Kinder vor jugendlichen Schlägern beschützte. Aber im Januar 2001 kommen die Beamten noch rechtzeitig zum Tatort. 18 Neonazis werden in der Nacht und am Wochenende festgenommen. Schwer verletzt wird Artemios T. ins Krankenhaus gebracht. Ohne die Hilfe der sechs Türken hätte er kaum überlebt.

Lange schon sei er nicht mehr hier gewesen, sagt Taner G., als er jetzt im Nieselregen vor dem mintgrünen Haus Nummer 37 steht. Er hat die Hände in den Taschen, den Schal fest um den Hals geknotet. Die schwarzen Haare trägt er kurz wie damals, nur sein Gesicht ist runder geworden. Nun versucht er, die Veränderungen zu erfassen: Vom »Palet« sieht man nicht mal mehr den Eingang. Er ist zugemauert, auf den Fensterbänken stehen Blumen, eine ganz normale Mietwohnung. Auch die »Burg Trausnitz« hat dichtgemacht, aber immerhin Spuren hinterlassen, im Putz sind noch die Vertiefungen der einstigen Buchstaben erkennbar.

Taner schaut etwas ratlos hin und her, viel hat dieser Ort nicht mehr zu erzählen, wo er doch der Stadt München erschreckend vor Augen führte, dass es hier sehr wohl eine Neonazi-Szene gibt. Und wo er für Taner so schicksalhaft wurde. »Wäre ich zufällig ein paar Minuten später aus dem ›Palet‹ gekommen, hätte ich heute keine Probleme«, sagt er. Dann hätte sich sein Leben nicht so dramatisch gewandelt. Er wäre nicht zum Helden geworden, aber er hätte wohl auch kein Geld für Fußball-Tickets genommen, die er nicht besaß. Im Winter 2009 musste sich Taner G. deshalb vor Gericht verantworten.

Am Morgen nach der schlimmen Nacht glaubte er noch, dass alles bald in Vergessenheit geraten würde: Taner G. war damals 22 Jahre alt und wohnte noch bei seinen Eltern, denen er kein Wort erzählte, weil er sie nicht beunruhigen wollte. Doch noch am selben Tag, einem Sonntag, werden die türkischen Helfer ins Krankenhaus zu Artemios T. gerufen, wo Oberbürgermeister Christian Ude ihnen danken möchte. Montagmorgen hat Taner auf seinem Handy 140 Anrufe in Abwesenheit und 60 SMS, eine deutsche Nachbarin umarmt ihn und spricht es als Erste aus: »Unser Held!«

Am gleichen Tag noch nimmt Taner die ersten Pressetermine wahr; das geht, weil das Lottogeschäft, das er zehn Monate vorher übernommen hat, montags ohnehin geschlossen ist. Taner G. wird seinen Laden aber auch in den nächsten Wochen nicht mehr aufsperren, denn er bekommt Drohungen. Im Internet erscheinen die Namen und Fotos der Helfer, dazu juristisch ausgeklügelte Sätze, die das Gegenteil von dem meinen, was sie sagen, zum Beispiel »Wir vertrauen auf die Kraft der argumentativen Auseinandersetzung«.

Die Münchner Polizei nimmt das ernst, fährt verstärkt Streife, gibt Sicherheitstipps. Ein privater Wachdienst bietet werbewirksam kostenlosen Personenschutz an. Taner G. hat Angst, aber er kann es nicht zugeben, jetzt noch nicht. Er hat auch gar keine Zeit dazu, denn nun läuft er den Marathon durch die Talkshows: Bescheiden tritt der junge Helfer auf, sympathisch und eloquent. Er ist bei Arabella Kiesbauer und Sandra Maischberger zu Gast, Jürgen Fliege klopft ihm auf die Schulter, Günther Jauch beschließt Taners Medienjahr, indem er ihn zum Menschen 2001 kürt. In den Schulen spricht er über Zivilcourage, Politiker erklären feierlich, dass er die Ehre Münchens gerettet habe, und versprechen, sich einzusetzen. Manche halten Wort, andere vergessen das schnell wieder. »Natürlich hat mir der ganze Trubel gefallen, das sag ich ganz offen!«

Lang hatte Taner davon geträumt, Fußballprofi zu werden, er hat bei den Sechzigern gespielt und bei einem Erstliga-Verein in der Türkei, bevor er seine Karriere aufgab. Jetzt war er unerwartet doch noch zum Star geworden. Ein Rausch war das, ein ewiger Torjubel. Bis sich Taners Vater wütend in den Weg stellte: »Was bist du für ein arrogantes Arschloch. Lässt dich dafür feiern, dass du einen Menschen gerettet hast. Ich schäme mich für dich!«

»Mein Vater hatte ja recht«, sagt Taner heute. Damals hat er das nicht gleich sehen können. So, wie die ganze Sache überhaupt eine Eigendynamik bekam, die niemand mehr überblicken, geschweige denn kontrollieren konnte: Der Verein Münchner Lichterkette will die Türken für ihren Einsatz ehren, aber dann streut ein Mitglied des Ältestenrates der Stadt München die Information, dass einer der Helfer wegen Körperverletzung vorbestraft sei, was stimmt, aber längst verjährt ist.

Aus Helfern werden Täter

Plötzlich stehen die Helfer wie Täter da, sie schreiben einen offenen Brief an die Stadt: »Mit der Diskussion über unser Vorleben haben sie Vorurteile gegen Ausländer verstärkt. … Wichtig ist nicht, wer geholfen hat, sondern dass jemand geholfen hat!« Schließlich bekommen sie doch noch den Preis »Münchner Lichtblicke«.

Das nächste Gerücht betrifft Taners Cousin Erkan, dem der Job gekündigt wird. Über den Grund und die Frage, ob dies mit Erkans Eingreifen und einer womöglich rechten Gesinnung seines Chefs zu tun habe, gibt es verschiedene Darstellungen. Erkan geht vors Arbeitsgericht, man einigt sich, die Gründe der Kündigung kommen nicht ans Licht. Wenig später zieht sich Erkan aus der Öffentlichkeit zurück und ist bis heute für die Presse nicht mehr zu sprechen.

Dann wiederum hört man, dass auch Artemios T., das Opfer, schon mit der Polizei zu tun hatte. Angeblich soll er seine Freundin geschlagen haben. »Stimmt nicht!«, sagt Artemios T., aber wieder bleibt eine Irritation. Ist die gute Tat der türkischen Helfer jetzt weniger wert?

Und über allem liegt wie eine dicke Schmutzschicht die Angst. Taners Eltern wohnen im Erdgeschoss. Spätestens um halb sieben gehen jetzt die Jalousien runter. Taner ist besorgt, auch um seine 16-jährige Schwester Ebru, die an dem Abend in der Zenettistraße dabei war. »Das Gesicht der Täterin vergesse ich nie«, sagt sie. Ebru, heute 26 und eine zierliche, hübsche Frau, hat inzwischen selbst Familie und einen Nachnamen, den die Öffentlichkeit nicht kennt. Sie
ist froh darüber.

Im Trainingsanzug sitzt sie auf dem Sofa ihrer konsequent in Schwarz-Weiß eingerichteten Wohnung, aufgeräumt ist dieses Leben. Der Fernseher läuft, der einjährige Sohn rennt durch den Raum, von seinem Onkel Taner hat er bereits sein erstes Fußballtrikot geschenkt bekommen. Ihr Bruder habe sich damals sehr verändert, sagt Ebru. Er habe kaum noch gesprochen, nicht mehr gelacht. »Meine Mama hat sich große Sorgen gemacht, dass er von der Brücke springt!«
Auch Taners Lottogeschäft blieb zu – für immer. Wie auf dem Präsentierteller habe er sich gefühlt.

Von einem Tag auf den anderen hatte er kein Einkommen mehr und dazu einen Haufen Geld zu zahlen: 40 000 Euro war er dem Vorgänger noch schuldig. Von den laufenden Einnahmen, 6000 bis 7000 Euro im Monat, hätte er die wohl leicht zahlen können, aber nun? Sowieso hing an dem Lottoladen viel.

Taners Vater, der nach einem Herzinfarkt nach 32 Jahren Arbeit bei BMW in den Vorruhestand gegangen war, hat regelmäßig ausgeholfen. Auch er rechnete mit den Einnahmen: Von seiner knappen Rente konnte er kaum die Miete zahlen.
Noch im Jahr 2001 wird der erste Prozess gegen die Neonazis aus der Zenettistraße eröffnet. In den Akten stehen auch Taner G.s Kontaktdaten, kurz darauf kommen Morddrohungen auf sein Handy: »Na, ihr Helden, könnt ihr noch schlafen? SS – Sieg heil. Wir werden euch besuchen.« Taner G. wechselt die Handynummer.

Nach der Verhandlung gibt Taner den Tätern die Hand. Bis auf einen schlagen alle verdutzt ein. »Ein Fehler ist nur dann ein Fehler, wenn man ihn ein zweites Mal macht«, begründet Taner seine versöhnliche Geste. Vielleicht will er aber auch Frieden schließen, um endlich selbst zur Ruhe zu kommen. Im März 2002 werden die beiden Haupttäter zu fünf und sechs Jahren Gefängnis verurteilt, aber Taners Angst bleibt. Wie lange? »Bis heute«, sagt er.

Taners Zukunft

Taner G. sucht nach Jobs. Schreibt Bewerbungen, erhält Absagen, eine mit der Begründung: »Es tut uns leid, aber das Sicherheitsrisiko ist uns zu groß!« Auch Bürgermeister Ude hilft bei der Arbeitssuche, setzt sich ein. Aber der Boden unter Taner G.s Füßen hört nicht auf zu schlingern. Was Taner anfasst, geht schief. »Menschen, die Zivilcourage leisten, zeichnen sich durch ein ausgeprägtes Interesse an Gerechtigkeit und durch eine besondere Bereitschaft zur sozialen Verantwortung aus«, sagt Hans-Werner Bierhoff, Psychologe der Uni Bochum. Aber nicht jeder Helfer ist automatisch so gefestigt und charakterstark, dass er mit solch unerwarteten Folgen umgehen kann, wie sie Taner G. jetzt zu bewältigen hat. »Er ist einfach zu sensibel – und zu gutmütig«, sagt seine Schwester. »Klar, machen wir!«, »Natürlich geht das!«, »Ist doch kein Problem!« – solche Sätze sagt Taner auch heute noch gern und versteckt jede Unsicherheit.

Der Druck wächst, und allmählich kann auch Taner nicht mehr anders, als sich sein düsteres Innenleben einzugestehen. Er geht zum Psychologen, der ihn aber schnell wieder allein gelassen habe. »Okay, hab ich mir gesagt, dann geht es mir eben gut! Auch wenn ich keine Nacht mehr schlafen konnte!«

Ausatmen kann er in diesen Tagen bei seiner Freundin, die zu ihm hält, auch finanziell hilft, und bei seiner Familie. Und dann sind da noch seine Auftritte als Stadionsprecher der türkischen Nationalmannschaft. Den Job hat er schon vor Jahren durch unerschrockenes Nachfragen, Glück und Zufall bekommen. Ob es dafür Geld gibt? Er lacht. »Nein! Und jeder Türke würde mit mir tauschen!«

Das ist Taner, wie er sich selbst am liebsten sieht: souverän und mit Bedeutung, mit ruhiger Stimme, die die Stadien erfüllt. Es wurmt ihn, wenn andere diese Qualitäten nicht erkennen, wenn Bayern-Stars wie Franck Ribéry oder Marc van Bommel auf Plakaten für mehr Zivilcourage werben – und nicht er! Selbstverständlich würde er da mitmachen – wenn man ihn fragen würde. Anders als die Stars hätte er zum Thema wirklich was zu sagen.

Um Geld zu verdienen, nutzt Taner G. seine Kontakte zum türkischen Fußballverband, macht Geschäfte mit Eintrittskarten für internationale Begegnungen. »Und dann bin ich an die falschen Freunde geraten, aber das passiert mir nicht noch mal!« Er erzählt die Geschichte so: Die falschen Freunde hätten vorgeschlagen, dass diesmal sie die Tickets besorgen und Taner das Geld von den Käufern kassiere und an sie weitergebe. Nur hätten »diese Leute« die Karten nie besorgt, aber Taners Unterschrift stand auf den Quittungen. 2006 ist das, im gleichen Jahr feiern die Münchner Neonazis den Überfall von damals mit einer Demonstration.

Ende 2009 kommt es zum Verfahren gegen Taner G. »Alles fing damit an, dass mein Mandant einen Menschen gerettet hat«, sagt der Anwalt Alexander Eckstein in seinem Plädoyer. Taner G. hat den Großteil des Schadens von fast 20 000 Euro, wegen dem er vor Gericht steht, zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeglichen. »Es ging ja nur noch um 2498 Euro«, sagt er rückblickend. Und sagt es noch mal: »nur noch 2498 Euro«. Taner spricht so ruhig wie immer und auch sein Gesicht zeigt nichts von seinen Gefühlen. Wie immer.

Die Richterin berücksichtigt die gute Tat bei ihrem Strafmaß: 18 Monate auf Bewährung also. Taner will nur noch raus. »Der tiefe Fall eines Helden«, titelt am nächsten Tag die Lokalpresse. Taner verlässt seine Wohnung zwei Tage nicht. »Ich stehe zu dem, was ich getan habe«, sagt er, aber an dem Wort »Betrüger« schluckt er wie an einem spitzen Knochen.

So schnell wie möglich will er ihn nun wieder ausspucken und hat auch schon einen Plan: In der Türkei will er Sportdirektor werden, ein neues, positives Bild schaffen. Die Vorbereitungen laufen: Seit einigen Monaten trainiert er jetzt einen Münchner Amateurverein, den er »nach oben schießen« will. Er organisiert ein Trainingslager in der Türkei, findet einen Sponsor, der alles bezahlt. »Ich will, dass die Spieler alle im weißen Hemd und dunklen Sakko zum Flughafen kommen«, erklärt Taner G. Und ein bisschen klingt sie wieder an: die Welt, in der er jemand ist.

Und ja, wenn er noch mal in so eine Situation wie damals käme, sagt Taner, dann würde er wieder helfen. »Ich kann doch gar nicht anders, das ist ja mein Problem!«

Fotos: Armin Smailovic