Ob ich nicht in einen Vorort umziehen wolle, scherzt die Dame im Kreisverwaltungsreferat München, Abteilung Einwohnerwesen. Dann ginge es schneller mit dem Pass: weniger Anträge, kürzere Wartezeiten, ein paar Wochen statt eines halben Jahres. Wollte ich nicht, und so werden, wenn alles klappt und ich den deutschen Pass bekommen sollte, zweieinhalb Jahre vergangen sein. Aus der türkischen Staatsangehörigkeit werde ich dann »entlassen«.
Es ist der 1. September 2017, der Journalist Deniz Yücel sitzt zu diesem Zeitpunkt seit 200 Tagen in Haft, ohne Anklage. Ich wurde wie Yücel in Deutschland geboren, besitze aber nur den türkischen Pass. Den Gedanken, mich als hier Geborener um den deutschen Pass bewerben zu müssen, habe ich immer schon gehasst. Ein Fußballer zahlt doch auch keinen Eintritt am Stadioneingang, um kicken zu dürfen. Es gibt den Doppelpass, aber leider nicht, wenn das Geburtsdatum wie bei mir vor dem Jahr 1990 liegt. Und Yücel hat er auch nicht vor der Haft geschützt.
Eigentlich bedeutet mir meine Staatsbürgerschaft nichts, die Pässe könnten genauso gut aus Esspapier sein. Aber es ist wie das Ausländer-Sein an sich: Wichtig ist, was die anderen denken, wenn sie dich anschauen. Mein Pass bedeutet anderen Menschen viel. In Deutschland und in der Türkei. Ob ich keine Pläne habe, dieses Jahr in die Türkei zu fliegen, fragen mich meine Eltern. Ich sage Nein.
Ich würde dort gern Oma besuchen, wenn sie in den Bergen ist, und mit ihr ein paar Holzscheite in den Ofen werfen, sie knacken so schön laut im Feuer. Aber ich weiß nicht, was mich an der Passkontrolle erwarten würde. Lassen mich die türkischen Behörden überhaupt noch ins Land? Und vor allem: Lassen die mich auch wieder raus?
Ob ich nicht etwas übertreibe, fragt mich eine türkische Kollegin. Ich schätze sie sehr. »Ich glaube, du fliegst bei den Strafbehörden unter dem Radar«, sagt sie. Sie hätte genauso gut »Nimm dich nicht so wichtig« sagen können. Vermutlich hat sie recht. Warum sollte die türkische Regierung interessieren, was ich für Texte schreibe?
Andererseits: Ich habe einen Artikel über die Situation deutscher Gülen-Anhänger geschrieben. Einer von ihnen flog kürzlich in die USA, um dort Fethullah Gülen, Erdoğans Erzfeind, zu besuchen. Wenn im türkischen Fernsehen das Gesicht von Gülen gezeigt wird, trockenspucken viele Menschen dort in Richtung Bildschirm. Die türkische Regierung wirft ihm vor, für den misslungenen Militärputsch verantwortlich zu sein, bei dem 250 Menschen gestorben sind. Mein Artikel wäre eine ausreichende Vorlage, mir wiederum Propaganda vorzuwerfen, denke ich. Man müsste als Staatsanwalt nicht einmal sonderlich kreativ werden.
Deniz Yücel hatte den Chef der PKK interviewt. Die gilt in der Türkei als Terrorgruppe. Er sitzt also im Knast, weil er seinen Job gemacht hat. #gazeteciliksuç-deildir, twittern sie in der Türkei: »Es ist kein Verbrechen, Journalist zu sein.« Auf das Hashtag folgen viele Namen, etwa der von Meşale Tolu, auch sie saß bis Mitte Dezember monatelang in Haft. In der Türkei ist es derzeit ein Verbrechen, Journalist zu sein.
Die Verhaftungswelle hat mir gezeigt, dass sich die Türkei in eine Richtung entwickelt, vor der ich mich fürchte. Es steht ein Mann an der Spitze eines Landes, der »Ich« meint, wenn er »Türkei« sagt – und der damit durchkommt, weil Politik dort mittlerweile funktioniert wie Fußball. Die Leute sehen sich als Fans von Parteien, nicht als Wähler. Team Erdoğan wird verteidigt, um jeden Preis. Die, die ihn nicht mögen, hoffen auf 2019 und dass er dann die Wahl verliert.
Auch in Deutschland hat sich die Lage für Türken 2017 in eine Richtung entwickelt, auf die ich keine Lust habe. Nonstop wird man auf Erdoğan angesprochen. Statt Small Talk gibt es einen Gesinnungstest. Einer Verwandten von mir ist das beim Arzt passiert. Sie hatte da sogar das Gefühl: Entweder sie distanziert sich vom türkischen Präsidenten – oder sie wird nicht behandelt. Das Dorf, aus dem meine Eltern kommen, hat nur eine Straße aus Matsch, die den Berg hochkurvt, und einen Bus, der erst losfährt, wenn genug Plätze besetzt sind. Meinen Pass, der mir nichts bedeutet, kann ich abgeben. Das Land, aus dem meine Eltern kommen, aus dem meine Verwandten kommen, die mir sehr wohl etwas bedeuten, gebe ich nicht her.
Also fuhr ich zum Einwohnermeldeamt und zog eine Nummer. Ich dachte mir: Geh lieber auf Nummer sicher, flieg in die Türkei, aber mit einem deutschen Pass. Meine Nummer blinkt, Zimmer 4. Ich erfahre: zweieinhalb Jahre, bis ich Deutscher werden darf, der ich seit Geburt doch bin. Vielleicht hätte ich in gebrochenem Deutsch sprechen sollen, so sieht mich das Gesetz ja offenbar. Ich rufe meine Oma an. Sie fragt mich, wann ich das nächste Mal komme. Zweieinhalb Jahre werde ich nicht warten, Oma. Egal welcher Präsident, egal welcher Pass.
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