In der vierten Staffel der Netflix-Serie Black Mirror gibt es eine Episode, in der ein Programmierer seine herablassenden Kollegen foltert. Er schafft virtuelle Doppelgänger von ihnen und hält sie in einem Videospiel als Sklaven. Eine Nebensächlichkeit blieb mir im Kopf, nur ein einziges Bild. Die Avatare blicken ratlos in ihre Hosen hinein. Sie haben keine Geschlechtsteile. Also können sie keinen Sex haben. Also funktioniert diese ganze patriarchal-archaische Struktur nicht, also sind alle Klischees außer Kraft gesetzt. Penislose Männer sind nicht mehr dauergeil, und das mit dem ewig lockenden Weib und der züchtigen Hausfrau erübrigt sich auch.
Horror-Fiktion oder Zukunft?
Ich erinnere mich an einen Disput, den ich mit Alice Schwarzer in oder nach einer Talkshow hatte, vor fast zwanzig Jahren. »Warum haben Sie den Namen Ihres Mannes angenommen?«, fragte sie streng. »Warum haben Sie nicht Ihren behalten?«
Was heißt denn hier meinen? Genau genommen hatte ich die Wahl zwischen dem Namen meines Vaters und dem Namen meines Mannes. Habe ich überhaupt die Möglichkeit eines eigenen Namens? (Ich kann diese Frage inzwischen mit Ja beantworten, weil ich den Vornamen geändert und ihn und den durch Heirat erworbenen Nachnamen ausreichend mit Eigenklang angefüllt habe.)
Was für mich damals folgerichtig war, einen Namen anzunehmen, der mich JETZT abbildete, in meinem SOSEIN sozusagen, war, wenn man so will, auch wenn als solcher nicht geplant, der eigentlich feministische Akt, Schwarzers Kritik für mich eine Blendgranate.
Aber gut, es gibt keine Letztgewissheit. Rein gesellschaftlich gesehen sind auch die selbstbestimmtesten Frauen von Männern dressiert worden, ob uns das passt oder nicht. Von Müttern erzogen, von Männern dressiert. Oder, korrekt, von Müttern erzogen, die von Männern dressiert waren und die wiederum von Müttern erzogen worden, die von Männern dressiert waren, welche wiederum von Müttern erzogen worden, die von Männern dressiert waren.
Wobei kein Mann auf die Welt kommt, sich am Sack kratzt und sagt, hey, schönes Wetter heute, ich dressier jetzt mal 'ne Frau. Es ist ja vielmehr so, dass seine Eltern ihm sagen: Du bist ein Mann, verhalte dich gefälligst auch so. Das Selbstverständnis von Männern drückt sich bis heute im Morgengebet eines orthodoxen Juden aus, der Gott dafür dankt, keine Frau geworden zu sein. Und, bitte, liebe Muslime, liebe Katholiken, spricht er euch nicht aus tiefstem Herzen?
Lag es an Männern, dass die drängendsten Fragen meiner Jugend nicht waren: Mag ich das, wenn xy mich küsst? Sondern vielmehr: Wie küsse ich so, dass man nicht merkt, dass ich es noch nie gemacht habe, "richtig" also? Ich zerbrach mir nicht den Kopf darüber, ob mir xy gefällt, sondern vielmehr darüber, wie ich ihm gefallen könnte. Ich war nicht darauf bedacht herauszufinden, wie xy mir Vergnügen bereiten könnte, sondern vice versa. Ich grämte mich nicht darüber, dass die Jungs in meiner Klasse Idioten waren, sondern darüber, dass, wie im Umkleideraum gelernt, mein Geschlechtsteil spärlicher behaart war als das der Klassenkameradinnen.
Cineastische Schweinereien, die mir in der DDR zugänglich waren, waren von Männerköpfen erdacht, von Männerhand gefilmt. Hätte ich mehr gewusst, wäre ich reifer gewesen, selbstbestimmter, selbstbewusster, aufgeklärter, hätte ich mir damals die Frage gestellt, ob mir das überhaupt schmeckt, einen Penis im Mundzu haben, hätte ich gewusst, welcher Göttinnen-Archetyp in mir wirkt, ob es Hera, Artemis oder wirklich Aphrodite ist, dann wäre ich damals schon, wie man heute in Selbstfindungszirkeln sagt, "in der Kraft meiner Weiblichkeit" gewesen.
Stattdessen trieb mich lange vor Erfindung des Internets die Frage um, wie "Blasen" geht. Ich gab - learning by doing - die blutjunge Femme fatale mit Zigarettenspitze und halterlosen Strümpfen, und ich war offenbar so überzeugend, dass mein Deflorist erst zwanzig Jahre später, als wir unsere von der Stasi unterbrochene Jugendliebe aufarbeiteten, ich eine Cicciolina-blonde Fernsehreporterin, er ein Regisseur mit weißem Schal, die Hände vors Gesicht schlug und rief: "Hätte ich gewusst, dass ich dein Erster war ..."
Hätte, hätte, Fahrradkette.
»Die Waffen einer Frau«, den Ausdruck muss ein Mann erfunden haben, aber das war mir nicht klar, vielleicht war es mir auch egal, ich habe mich bald bewaffnet. Und zwar bis an die Zähne: hochgeschlossen und hochhackig, eine Amazone mit roten Krallen. Kampfbereit. Großmäulig. Als ich zum ersten Mal hörte, dass ich möglicherweise gar nicht so selbstbestimmt war, wie ich glaubte zu sein - auch noch von einer Frau -, blies ich empört die Backen auf: »Das muss ein Mann mir sagen, eh' ich's glaube!« (Kleist)
Selbstredend haben mich in den folgenden Jahrzehnten Entscheidungsträger zu Meetings in Hotelzimmer einbestellt, einer sogar im Bademantel (nicht Wedel), ein verantwortlicher Redakteur sagte »Ich drucke Ihren Text, wenn Sie mit mir ins Bett gehen«, ich lehnte ab, der Text erschien nie. Ein Ressortleiter grabschte an mir herum, ich scheuerte ihm eine. Ein Chefredakteur gestand mir, dass seine Frau ihn nicht verstehe, ich lachte ihm ins Gesicht. Einmal rief mir ein Schauspieler, als ich nach dem Interview nicht mit ihm ins Hotel wollte, mit gellender Stimme durch die Hamburger Nacht hinterher: »Duuu bist die läääätzte Läääsbe!«
Ich fand das lustig.
Die Willfährigkeit meiner Jugend hatte ich längst abgelegt, mir stattdessen antrainiert, Unerhörtes auszusprechen, Sachen wie »Was für ein Klischee!«, »Holen Sie sich lieber einen runter« oder »Sie langweilen mich«. Es gibt im Amerikanischen den schönen Spruch: »Fake it until you make it.« Mit dem lässt sich gut erklären, was Frau mit der Angst machen kann, mit der Angst vor Dunkelheit, Verfolgung, Übertritt, Vergewaltigung, mit der Angst vor Missverständnissen, peinlichen und unangenehmen Situationen, aber vor allem mit dem »Wer A sagt, muss auch B sagen«-Mist. Diese hypothetische Frau, die vielleicht auch ich bin, tut so, als hätte sie diese Angst nicht. Und bumm! Man denke sich ein Kind, das ständig auf dem Schulhof verprügelt wird, bis es eines Tages mit einer Kraft, von der es nichts wusste, mit einer Faust, die sich zum ersten Mal ballt, zurückschlägt.
So war das. Eine nicht gezeigte Angst wird in der Tat immer kleiner. Ganz weg geht die nie, aber das wird nicht verraten. Wenn ich nachts an einer beunruhigenden Männergruppe vorbeigehe, mache ich ein Fake-Telefonat. Als ein Exhibitionist mir seinen erigierten Penis zeigte, streifte ich die Darbietung beiläufig mit meinem Blick. Bloß nicht erschrecken, lachen oder schreien. Nicht mal wegschauen. Jede Art von Reaktion spielt dem anderen in die Hand. Cool bleiben, auch wenn das Herz bis zum Hals schlägt. Frauen, die Männer studiert und begriffen haben, ist nichts Menschliches fremd.
Ich kann die Raumtemperatur um zwanzig Grad Celsius runterkühlen, wenn es an Konferenztischen unappetitlich wird. Heidewitzka, da schrumpfen die Machtschwänzchen. Aber ich kann's mir inzwischen auch leisten. Ich bin alt. Ich bin unabhängig. Ich bin in der Kür meines Lebens. Ich genieße den Luxus, Nein sagen zu können.
Allerdings ist mir erst seit Kurzem, erst seit #MeToo, klar, dass ich nicht so bin, weil ich eben so bin, sondern dass ich so geworden bin, weil es Männer gibt, weil ich eine Frau bin mit Brüsten und einer Vagina, und weil die Knöpfe von Schwänzen gedrückt werden (wehe, Männer der SZ-Magazin-Chefredaktion, ihr streicht mir dieses schön schiefe Bild raus!).
Ich dachte früher, nee Freunde, nun spring ich nicht mehr über eure Stöckchen, nun springt ihr über meins! Heute weiß ich: Ich sprang immer noch, verdammte Scheiße, ich sprang zwar nun, INDEM ich Männer springen ließ, aber ich war nur von einer Wichsvorlage (süß) zur anderen (sauer) gewechselt.
Ich holte mir die Macht, aber egal ob schnurrend oder fauchend, ich war von Männern gezeugt, geformt, gezähmt. Ich hatte nur eine einzige Wahl, nämlich die, mich zu diesem Fakt zu verhalten: Claqueurin oder Kriegerin zu sein. Ich hab mich, nach einigem Rumgeeier, für die Kriegerin entschieden.
Nicht beantwortbar ist die Frage, wie ich wäre, wenn ich Männer niemals getroffen hätte, wenn ich ihnen niemals ausgesetzt gewesen wäre, wenn es sie nicht gäbe auf der Welt, wenn wir Menschen alle, wie die Avatare in der Black Mirror-Folge, keine Geschlechtsteile hätten.
In Beziehungen will ich keinen Druck, keine Verbindlichkeit. Ich will niemanden, der für mich sorgt, der sich um mich sorgt. Ich will niemanden, der mich braucht, der mich fragt, wo ich hingehe und wann ich wiederkomme. Ich will schon gar nicht »drüber reden«. Ich mache die Regeln, ich halte die Distanz.
Jahrzehnte in der Männerwelt haben mich verändert. Ich bin auf der Hut. Ich hab den Finger am Abzug. Ich stehe mit dem Rücken an der Wand. Ich schmelze nicht auf dem Altar der Liebe, kein weiteres fucking Stahlbad bitte! Und überhaupt: Hatte ich eine Wahl? Es ist bei mir genauso gekommen, wie Gloria Steinem mal sagte: Ich bin der Mann geworden, den ich selber gern gehabt hätte.