Eurojackpot!, ruft der Mann im Autoradio, Schatz! 31 Millionen! Dann sind wir richtig reich! Als ich den Mann höre, ist mir klar, dass es sehr unwahrscheinlich ist, im Lotto zu gewinnen, aber 31 Millionen – wie egal wären mir da die 400 Euro, die ich gerade für das Autoradio ausgegeben habe! Noch bevor ich den Gedanken entwickeln kann, dass ich mit 31 Millionen Euro auch mehr Spielraum bei der Kaltmiete hätte, beendet eine Frauenstimme den Werbespot im Fragen-Sie-Ihren-Arzt-oder-Apotheker-Ton: Wahrscheinlichkeit auf den Höchstgewinn eins zu 91 Millionen.
Eine andere Zahl, die mich neuerdings beschäftigt, hat mit Wurst zu tun. Der Verzehr von Wurst erhöhe das Krebsrisiko, gab die Weltgesundheitsorganisation kürzlich bekannt, sie bezifferte das mit 36 Prozent, und dazu las ich dann folgendes Rechenbeispiel: Ein 65-jähriger Mann in Deutschland hat ein Risiko von 2,4 Prozent, binnen der kommenden zehn Jahre an Darmkrebs zu erkranken. Äße dieser Mann 100 Gramm mehr Wurst pro Tag als der durchschnittliche 65-Jährige, stiege sein Risiko auf 3,3 Prozent.
So kann ich das nicht ernst nehmen. 2,4 Prozent, 3,3 Prozent – sollte ich mich je dazu durchringen, Vegetarier zu werden, dann wegen der armen Schweine, nicht wegen solcher Prozentkrümel. Umgekehrt verhält es sich beim Lotto: Bloß zu wissen, dass ein Lottogewinn echt unwahrscheinlich ist, lässt mich immer noch auf den Zufall hoffen. Es ist ja auch echt unwahrscheinlich, in einer Muschel eine Perle zu finden. Aber wenn an dem Strand 91 Millionen Muscheln liegen, und ich erfahre, nur in einer ist eine Perle – also, da brauche ich schon eine zuversichtliche Tageslaune.
Klar ist es wichtig, den Leuten zu sagen, dass Wurst ungesund und Lotto fast aussichtslos ist. Aber mir tut nicht gut, dass ich das beziffert kriege. Was, wenn alle Träume eine Wahrscheinlichkeitsrechnung durchliefen und mit einem Warnhinweis versehen würden? Angenommen, ich bin Single und erwäge, zu einer Party aufzubrechen. Auf die Party sind 100 Gäste eingeladen. 51 Prozent der Deutschen sind Frauen, also sind auf der Party 51 Frauen. Die Singlequote soll bei rund 20 Prozent liegen, also sind zehn Frauen Singles. Minus – jetzt kommt gefühlte Statistik – drei Frauen, die gerade keine Beziehung wollen, minus eine Frau, die sich für Frauen interessiert, minus vier, die mir nicht gefallen, minus vier, denen ich nicht gefalle, minus eine, die auf der Party wieder was mit ihrem Ex anfängt, macht zusammen minus drei, eine negative Wahrscheinlichkeit; demzufolge wäre ich nach der Party mehr Single als davor. (Was ich, als ich Single war, wirklich oft so empfand.) Wenn seriöse Statistiker die Situation durchrechnen, also solche Statistiker, die auf eins zu 91 Millionen und 3,3 Prozent kamen, steht da sicher was über Null, aber was schon? 1,6 Prozent Wahrscheinlichkeit, sich erfolgreich zu verlieben? Und da soll man aus dem Haus?
Ich will nicht wissen, wie wahrscheinlich es genau ist, dass ich mit einem Beitritt zu den Grünen die Welt verbessere. Ich will nicht wissen, wie die Chancen stehen, dass die Anmeldung meines Sohnes im Fußballverein in einer Bundesligakarriere mündet. Ich will träumen. Die Vermessung der Welt macht sie schal; erst Zahlen lassen Wunder unmöglich erscheinen. Ich will aber auch nicht wissen, wie genau meine Aussichten stünden, am Rauchen zu sterben, wenn ich heute wieder damit anfinge. Ich will mich lieber nur fürchten, die Furcht hat mir damals sehr geholfen aufzuhören. Ich glaube: Je weniger man weiß, ob das, worauf man hofft oder wovor man sich ängstigt, wahr wird, desto stärker sind die Hoffnung und die Angst.
Nachdem die WHO vor Wurst gewarnt hatte, beschloss ich, erst mal keine zu kaufen, und aß schnell die auf, die noch im Kühlschrank lag. Mein Verhalten deute ich so, dass ich weiter Wurst essen werde. Und Lotto habe ich nach dem Werbespot auch nicht gespielt, aber das habe ich eh nie getan. Nicht so sehr weil ich nie gewinnen würde – es sind mir einfach zu viele Zahlen auf den Scheinen.
Illustration: Tim Lahan