In tödlichen Höhen

Vier Schulfreunde suchen den letzten Kick, bevor das Erwachsenenleben beginnt. Sie beschließen, auf den Mont Blanc zu steigen – obwohl nur zwei von ihnen Erfahrung im Hochgebirge haben. Eine Geschichte ohne Happy End.

Von links nach rechts: James Hooper, James Atkinson, Rob Gauntlett und Richard Lebon. In Anzug und Krawatte sahen sie sich allerdings eher selten.

Am 9. Januar 2009 findet die Besteigung eines Gipfels im Mont-Blanc-Massiv durch vier junge englische Kletterer – Rob Gauntlett, 21; James Hooper, 21; Richard Lebon, 22; und James Atkinson, 21 – ein tragisches Ende. Das Unglück, das die Gruppe ereilte, war nicht grausamer als die vielen anderen, die sich an dem Berg, der die meisten Todesopfer weltweit fordert, regelmäßig abspielen, allein im Jahr zuvor waren mehr als fünfzig Bergsteiger am Mont Blanc gestorben. Die Opfer werden meist nur in kurzen Pressemeldungen abgehandelt: vermisste Österreicher, tote Japaner. Doch über die vier Briten berichten Zeitungen und Fernsehen umfangreich.

Rob Gauntlett und sein bevorzugter Kletterpartner und engster Freund James Hooper hatten 2006 eine gewisse Berühmtheit erlangt: Die beiden hatten mit 19 Jahren als jüngste Briten den Mount Everest bestiegen. Ihre anschließende Expedition, eine Reise vom Nordpol zum Südpol, brachte ihnen eine Rolle in einem Adidas-Werbespot ein. Das Magazin National Geographic Adventure kürte sie 2008 zu »Abenteurern des Jahres«. Weniger als ein Jahr später bergen Hubschrauber zwei Leichen von einem eisigen Bergrücken in den Alpen. Die Männer waren 900 Meter in die Tiefe gestürzt.

Gauntlett, Hooper, Lebon und Atkinson sind Freunde seit früher Kindheit. Gemeinsam besuchen sie das traditionsreiche Internat Christ’s Hospital in West Sussex, gemeinsam brechen sie zu sportlichen Unternehmungen auf, immer angeführt vom charismatischen Kopf der Gruppe, Rob Gauntlett. 2003 überredet er seine drei Freunde zu einer viertägigen Radtour durch den Lake District im Norden Englands. Auf dem Rückweg fällt ihm eine Zeitung in die Hände – mit einer Schlagzeile zum 50. Jahrestag von Edmund Hillarys Everest-Besteigung. Und Gauntlett sagt: »Wir werden den Everest besteigen. Und wir werden die jüngsten Engländer sein, die das schaffen.«

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Um dieses Vorhaben so schnell wie möglich umzusetzen, werden sie mindestens ein Jahr zum Trainieren und Planen brauchen. Doch Hooper und Gauntlett mussten noch zwei Jahre warten, bis sie ihren College-Abschluss in der Tasche hatten. Atkinson war ein Jahr hinter ihnen, schied also ganz aus. Und Lebon, der ihnen ein Jahr voraus war, packte schon für die Universität Cambridge. Also stählen Hooper und Gauntlett erst einmal ihre Kondition. Um Beinmuskeln aufzubauen, fahren sie mit dem Fahrrad quer durch Europa. Dabei kletterten sie auf jeden Berg, dem sie unterwegs begegnen. Wenn sie von ihren hochfliegenden Everest-Plänen sprechen, klingen sie wie pubertierende Jungs: »Man muss die Welt erforschen«, sagt Gauntlett, »wenn man einen Traum hat, darf man ihn niemals aufgeben.«

Im Mai 2006 brechen Hooper und Gauntlett wie geplant zum Everest auf. Anfangs hatte sich Hooper gefragt, ob er das wirklich mitmachen wollte. Doch er beißt sich durch und übersteht alles, was ein Bergsteiger am Everest zu überstehen hat: Höhenkrankheit, Bronchialinfekte, Erfrierungen. Gauntlett und er klettern auf traditionelle Weise, lassen sich also nicht einfach von den Sherpas hochschleppen. Bis etwa 6000 Meter geht es Hooper gut. Dann quält ihn ein trockener Husten. Er geht in die Knie und stöhnt: »Das ist die Hölle.«

Am 17. Mai 2006 erreichen sie den Gipfel. Die Feier ist nicht gerade ausgelassen, der letzte Anstieg hat sie sehr mitgenommen. Einmal hatte Gauntlett im Sitzen auf Hooper gewartet. Als Hooper wieder aufschloss, war Gauntlett fast eingeschlafen. Hooper zerrte ihn wieder auf die Beine. Beim Aufstieg hatten sie eben noch die Leiche eines Bergsteigers liegen sehen, den sie aus dem Basislager kannten. Wer einschläft, erfriert innerhalb von Minuten.

Jeder Bergsteiger weiß: Die meisten Unfälle passieren erst beim Abstieg. Man ist müde und unkonzentriert, niemand träumt davon, vom Everest abzusteigen. Und Hooper spürt eine große Enttäuschung, als er den Gipfel des Everest verlässt. Scheiße, denkt er, war’s das jetzt? In Minutenschnelle lässt der Rausch nach, der ihn gerade noch angetrieben hatte. Bei der Ankunft im Basislager ist er völlig leer. Die letzten drei Jahre waren ein Dauer-Nervenkitzel gewesen: Mount Everest, 24 Stunden lang. Aber nun? Mit einem Mal sind Gauntlett und er die Einzigen, die keine Pläne haben. Fast alle ihre Altersgenossen studieren. In düsteren Momenten sieht sich Hooper bis an sein Lebensende in einem fensterlosen Großraumbüro sitzen.

Zurück in England haben sie anfangs keine Ahnung, was sie sich als Nächstes vornehmen sollen. Der Boom von Aktivurlauben, die Abenteuerkanäle im Fernsehen, der Everest-Hype – all das macht es schwer, etwas zu finden, was nicht schon Dutzende zuvor getan und gefilmt haben. Doch dann kommt ihnen die Idee: allein mit Muskelkraft und natürlichen Energiequellen von Pol zu Pol zu reisen. Am 8. April 2007 treten die beiden ihr großes Abenteuer an. Mit Skiern und Schlitten geht es durch Grönland, dann 3000 Seemeilen per Segelboot nach New York. Dann mit dem Fahrrad nach Texas, durch Mexiko, Guatemala, Honduras, Nicaragua und Costa Rica, durch ganz Südamerika und von dort zum Südpol – 9000 Seemeilen, begleitet von Stürmen in Orkanstärke und 25 Meter hohen Wellen. Als die Expedition in Australien endet, haben sie in 396 Tagen 32 000 Kilometer zurückgelegt. Wieder in der Heimat, fällt Hooper erneut in ein Loch.

Es muss weitergehen. Am 5. Januar 2009 treffen die vier jungen Engländer in Chamonix ein, am Fuße des Mont Blanc: Gauntlett und Hooper, zusammen mit ihren alten Schulfreunden Lebon und Atkinson. Sie schlafen in der billigsten Unterkunft der Stadt, dem »Le Chamoniard Volant«, wo ein Zimmer mit zwei Stockbetten etwa 16 Euro die Nacht kostet. Sie haben sechs Tage Urlaub geplant, in denen Lebon und Atkinson von Gauntletts und Hoopers Bergsteigerqualitäten profitieren sollen. Die Woche bedeutet allen vieren ungemein viel. Seit der Fahrradtour vor sechs Jahren waren sie nicht mehr gemeinsam verreist. Und es ist für lange Zeit die letzte Gelegenheit, die sich bieten wird: Atkinson hat noch ein Jahr an der Uni vor sich, dann will er zum Militär. Lebon ist kurz davor, einen Posten bei einer gemeinnützigen Hilfsorganisation in Afrika anzutreten. Wieder hat Gauntlett die Truppe zusammengetrommelt: »Was haltet ihr von einem Urlaub zu viert?« Die Wahl fiel auf den Mont Blanc, wo Gauntlett und Hooper im Jahr 2005 ihr erstes großes Klettererlebnis hatten.

Nur Lucinda Hutchins ist von dem Ausflug nicht begeistert: Sie und Gauntlett sind ein Paar. Er war gerade erst vom Bergsteigen in Frankreich zurückgekehrt, erschöpft, mit eingefallenen Wangen, am Ende seiner Kräfte. Als er ihr von der geplanten Reise zum Mont Blanc erzählt, warnt Hutchins, er sei zu ausgepumpt dafür. Sie habe ein ungutes Gefühl bei der Sache. Er entgegnet nur: »Mir passiert schon nichts.«

Atkinson hat erste Klettererfahrungen in Schottland gesammelt. Doch der Mont Blanc ist ein anderes Kaliber: Hier muss man nicht nur bergsteigen, sondern auch eisklettern. Lebon bringt kaum Erfahrung mit. Als Student in Cambridge hatte er keine Zeit für monatelange Märsche durch den Himalaja.

Der Aufstieg beginnt am 5. Januar in den Tälern des Aiguille d’Argentière, eines hohen, aber bezwingbaren Gipfels am Nordende des Massivs. Der Ausflug soll zu einem Schnellkurs im Eisklettern werden. Eiskletterer steigen mit Klettereisen (an den Bergschuhen befestigte Spikes) und Eispickel auf; den – oder besser: die Pickel, da man meist einen in jeder Hand hat – schwingt man gewöhnlich in einer Art verzögerter Schwimmbewegung. Der zeitliche Abstand zwischen den Schwüngen hängt vom Geräusch ab, das der jeweils letzte Schlag erzeugt hat – dem Knacken, mit dem der Eispickel das Eis durchschlägt, folgt hoffentlich ein sattes Knirschen.

Der Tag vor dem Unglück: Das Wetter im Lager ist gut, nichts deutet auf eine Tragödie hin. Im Hintergrund der Mont Blanc du Tacul.

Hört man stattdessen ein zweites Knacken, ist der Kletterer gut beraten, eine andere Route zu wählen – nicht nur aus Selbstschutz: Eiskletterer steigen in Zweierteams auf und sind mit einem Seil gesichert. Der erste Mann, der sogenannte Vorsteiger, geht voran, sucht sichere Bereiche und befestigt dort Eisschrauben im Eis. Er fädelt das Seil durch die Ösen, was beiden nun als Sicherungspunkt dient. Der Nachsteiger folgt und zieht die Schrauben hinter sich ab. Sollte er abrutschen, fangen Seil und Vordermann – hoffentlich – seinen Sturz auf. Der Vorsteiger ist nur durch die Eisschrauben gesichert. Stürzt er über der Sicherung ab, dann kann der zweite Bergsteiger nur hoffen, dass er nicht von der Wucht mitgerissen wird. Deswegen übernimmt auch der beste Kletterer im Team immer die Führung.

Bei der Frage nach den gefährlichsten Bergen der Welt denken viele routinierte Bergsteiger an den Himalaja: Annapurna, K2, Nanga Parbat. An der Annapurna sterben jedes Jahr vier von zehn Bergsteigern. Der Mont Blanc rangiert in dieser Beziehung zwar erst kurz hinter dem Everest, dem Matterhorn und dem Denali in Alaska, doch in absoluten Zahlen fordert er mehr Todesopfer als Everest, Matterhorn und Denali zusammen. Er ist die Sirene unter den Bergen; er lässt sich gnädig von 20 000 Kletterern im Jahr besteigen, darum ist er auch so beliebt – so ziemlich jeder schafft den Aufstieg. Doch allzu ehrgeizige Kletterer lockt er erst weit nach oben, um sie dann brutal dafür zu bestrafen.

Am dritten Tag hat der eifrige Schüler Lebon alles im Griff und Atkinson plädiert für schwierigere Aufgaben. Doch Gauntlett und Hooper haben andere Pläne. Das Wetter schlägt um; bald werden sie mit Schneegestöber und eingeschränkten Sichtverhältnissen zu kämpfen haben. Also gehen sie lieber auf Nummer sicher und verschieben den Aufstieg auf den nächsten Tag. Die Gruppe steigt nach Chamonix ab, um sich dort lieber an Nudeln und Bier abzuarbeiten. Die deftige Kost ist eine gute Grundlage für die Strapazen des nächsten Tages, wenn sie weiter nach oben, also tiefer in den Berg vordringen werden, wo das richtige Eis lauert.

Am 8. Januar schlagen sie ihr Lager im Gletscherbecken des Vallée Blanche auf, einem verschneiten Plateau, das zwischen zwei Gipfeln westlich des Mont Blanc verläuft, der näher gelegene ist der Mont Blanc du Tacul. Der Himmel ist über Nacht aufgeklart, die Böen sind schwächer; die Temperatur liegt bei knapp zehn Grad minus, die Sonnenstrahlen lassen das Eis wie Diamanten funkeln. In diesem überwältigenden Szenario findet Lebon seine innere Ruhe. Alle Ängste fallen von ihm ab. Das kann man von Hooper nicht behaupten: Nur sehr selten hatte ihm Gauntlett bei ihren Ausflügen die Rolle des Vorsteigers überlassen. Hooper hatte dabei zwar nie versagt, doch bisher waren sie immer nur zu zweit gewesen und er hatte einen absolut zuverlässigen Partner an seiner Seite gewusst. Jetzt sollte er die Führung am Seil übernehmen und dabei nicht Gauntlett oder Atkinson führen, sondern Lebon – den unerfahrensten der
vier. Gauntlett fand das ganz schlüssig, denn Hooper hatte im Grunde die gleichen Leistungen vollbracht wie er selbst.

Am Nachmittag zuvor hatten sie sich auf eine der beiden Routen für den nächsten Tag geeinigt. Gauntlett wollte natürlich die anspruchsvollere Route gehen – eine Ganztagestour senkrecht die Ostwand hoch. Atkinson und Lebon waren auch dafür. Und die Wettervorhersage verhieß klare Sicht.

»Gebt Bescheid, dass euch nichts passiert ist«

Die Nacht vor dem Unglück: James Atkinson und Rob Gauntlett in ihren Schlafsäcken im Zelt. Wenig später, noch vor Sonnenaufgang, brachen sie auf.

Aber Hooper beobachtet die linsenförmigen Wolken am Himmel argwöhnisch: unbewegliche Vorboten starker Winde oder Stürme. Wettervorhersage hin oder her, Hooper weiß, wie wechselhaft die Witterung am Mont Blanc du Tacul sein kann; im Handumdrehen können heftige Stürme am eben noch blauen Himmel aufziehen, die für Schnee und Eis sorgen. Brennt anschließend wieder die Sonne vom Himmel, schmilzt der Schnee und lockert dabei riesige Eiszapfen von Überhängen oder löst Lawinen aus. Herabstürzende Eisbrocken hatten 2008 eine Lawine verursacht, die fünf Österreicher und drei Schweizer unter sich begrub.

Hooper konnte und wollte seine Befürchtungen nicht in den Wind schlagen. Das Leben eines Freundes lag in seinen Händen. Als Anführer musste er seiner Erfahrung und seinem Instinkt vertrauen, eine Entscheidung treffen und dann an ihr festhalten. Also sagte er: »Nein. Tut mir leid.« Stattdessen schlug er vor, mit Lebon eine einfachere Route zu gehen, die nur halb so lang, halb so schwierig und halb so riskant ist. Um fünf Uhr, noch vor Sonnenaufgang, weckt das Brodeln des Kaffeewassers Hooper und Lebon. Gauntlett und Atkinson lassen bereits über einem kleinen Campingkocher Schnee schmelzen und füllen mit dem Wasser ihre Feldflaschen. Dann packen sie ihre Ausrüstung. Sie wollen noch ein letztes Mal am Berg übernachten und sich dann mit Hooper und Lebon am nächsten Nachmittag in Chamonix treffen. »Lasst ja eure Handys an«, ruft ihnen Hooper aus seinem Zelt zu. »Die sind an«, bekommt er als Antwort. Dann hören er und Lebon, wie Gauntlett und Atkinson durch den Schnee davonstapfen.

Hooper und Lebon schlafen wieder ein, eingehüllt in die Stille der Berge. Ihre Tour wird vier bis acht Stunden dauern, die von Gauntlett und Atkinson bis zu zwölf. Später am Vormittag brechen Hooper und Lebon auf. Das Wetter hat sich immerhin nicht verschlechtert. Es ist überwiegend bewölkt, minus acht bis neun Grad, mäßiger Wind, mäßige Sicht, keine Niederschläge. Lebon überlegt laut, ob es vielleicht doch nicht zu spät für eine ernsthaftere Tour sei. Hooper will lieber auf besseres Wetter warten. Gegen zehn Uhr wird der Himmel tatsächlich heller. Aber es ist jetzt zu spät, um ihre ursprünglich geplante Route zu gehen. Also bewundern sie den Mont Blanc du Tacul aus der Ferne. Dort sehen sie zwei winzige Punkte, die sich am Fuß einer engen Eisrinne emporkämpfen: Gauntlett und Atkinson steigen gerade den Gervasutti-Couloir hinauf, eine Wand aus massivem Eis, Schnee und Felsen, etwa so lang wie neun Fußballplätze; ein Gebiet ausschließlich für erstklassige Bergsteiger und Extremkifahrer. Ein Sturz hier endet meist tödlich.

Nach drei Stunden klettern haben Hooper und Lebon genug. Es ist bereits 13 Uhr, deshalb beschließen sie, nach Chamonix abzusteigen und die Rückkehr der Freunde am nächsten Tag abzuwarten. Sie schicken Gauntlett und Atkinson eine SMS: »Wir steigen ab. Genießt den Aufstieg. Gebt Bescheid, dass euch nichts passiert ist.«

Eine Antwort bleibt aus, doch das ist nicht ungewöhnlich. Hooper weiß, dass niemand, der gerade in einer Eiswand hängt, sein Handy auf Kurznachrichten checkt. Er und Lebon verlassen ihr Lager im klassischen Stil, mit der Seilbahn. Im Tal ziehen sie sich in ihre Herberge zurück, wo sie den Abend mit gutem Essen und gutem Wein ausklingen lassen. Im Fernsehen läuft Batmans Rückkehr.

Am Morgen ruft Hooper Gauntlett und Atkinson an. Als keiner von beiden antwortet, ist er nicht beunruhigt. In den Bergen ist das Mobilfunknetz nicht sehr stabil. Akkus leeren sich, Handys gehen verloren. Sie gehen zur Talstation der Seilbahn, dem vereinbarten Treffpunkt. Als abends die letzte Kabine leer eintrifft, machen sich Hooper und Lebon doch Sorgen. Sie rufen bei der Bergrettung an: »Unsere Freunde sind noch nicht im Tal angekommen. Haben Sie etwas gehört?«

»Nicht dass ich wüsste«, lautet die Antwort. »Sie sollten besser vorbeikommen und eine Vermisstenanzeige aufgeben.« Sie gehen zur Bergrettungsstation, einem schlichten Gebäude nördlich des Stadtzentrums. Der diensthabende Beamte nimmt ruhig alle Daten auf: Namen, Alter, Beschreibung. Dann blickt er auf: »Ich bedaure sehr, aber wir haben zwei tote Bergsteiger am Fuß des Couloir gefunden.« Am Morgen war eine andere Klettergruppe auf Gauntlett und Atkinson gestoßen. Ihre blutigen, zerschmetterten Leichen lagen etwa zehn Meter voneinander entfernt. Sie waren noch immer am Seil verbunden.

Hooper und Lebon verbringen die nächsten zwei Stunden auf der Station. Sie weinen um ihre Freunde, suchen nach den Telefonnummern von Gauntletts und Atkinsons nächsten Angehörigen und löchern die Bergretter mit Fragen. Den Berichten der Beamten zufolge deutet alles darauf hin, dass sich das Unglück am Tag zuvor gegen elf Uhr vormittags ereignet hat – etwa zur gleichen Zeit, als Hooper und Lebon die beiden dunklen Punkte am Fuß der Eisrinne sahen. In Hoopers Kopf wirbeln die Gedanken.

Hatten Lebon und er tatsächlich ihre beiden Freunde tot auf dem Eis liegen sehen? Der Diensthabende meint, die Möglichkeit bestehe, dass die Opfer nach dem Sturz noch kurz bei Bewusstsein waren.

Aber Hooper erkennt bald, dass der Todeszeitpunkt nicht stimmen kann. Gauntlett und Atkinson konnten es nicht bis um elf zur Eisrinne geschafft haben. Er bittet um Gauntletts Kamera, die am Unglücksort gefunden wurde. Sie ist auf die falsche Uhrzeit eingestellt. In Wirklichkeit war es gegen 14 Uhr zum Absturz gekommen, stellt sich heraus.

Die Minuten vor dem Unglück: Gauntlett in der Felswand. Das Foto wurde später in seiner Kamera gefunden. Atkinson muss es gemacht haben.

Die Kamera bringt auch noch in anderer Hinsicht Klärung: Gauntlett und Atkinson haben ihren Aufstieg in der Eisrinne fotografiert. Es sind keine Probleme zu erkennen. Das Wetter war ideal. Das Gespann hatte die weiteste Strecke hinter sich; die Spitze war noch etwa 200 Meter entfernt. Die beiden waren schnell vorangekommen. Sie hatten die Route in etwa drei Stunden bewältigt, die meisten Bergsteiger brauchen für gewöhnlich eine Stunde länger. Und trotzdem war genügend Zeit für Pausen gewesen, um den Ausblick zu genießen. Sie hatten die Kamera immer wieder hin- und hergegeben, wenn sich beide auf gleicher Höhe befanden. Auf den letzten Bildern sieht man Atkinson fröhlich mit dem Eispickel fuchteln und Gauntlett, wie er sich an der Felswand ausruht. Zu diesem Zeitpunkt musste einer von beiden abgerutscht sein.
Dort – nach etwa drei Viertel der Strecke – fanden die Bergretter Stiefelabdrücke, einen Handschuh, einen Eispickel, einen Blutfleck. Noch mehr Blut, Aufschlagspuren, einen Handschuh fand man weiter unten in der Eisrinne. Der zuständige Beamte ist überzeugt, dass »einer der Bergsteiger das Gleichgewicht verloren haben muss. Und zwar der Vorsteiger.«

Hooper und Lebon fällt die Vorstellung schwer, dass ihrem routinierten Anführer Gauntlett aus heiterem Himmel und bei idealen Bedingungen ein solcher Fehltritt unterlief. Sie wissen allerdings auch, dass die Gefahr immer besteht. Überall auf der Welt kommen jedes Jahr etliche Bergsteiger um. Auch Gauntlett war nicht gegen das Risiko gefeit. Vielleicht hatte sich ein Brocken Eis gelöst und ihn ins Stolpern gebracht. Oder er war auf eine Eisplatte getreten, hatte den Halt in der Wand verloren. Oder er hatte einfach nur den falschen Schritt zur falschen Zeit getan.

Oder vielleicht war es gar nicht Gauntlett gewesen? Das war die erschütternste Vorstellung. Wie zuvor schon mit Hooper hatte Gauntlett vielleicht beschlossen, ab und an Atkinson den Vortritt zu lassen. Bei Atkinson wäre ein Fehltritt leichter zu erklären – ein tragisches, aber einleuchtendes Szenario.

Das Einzige, was die Bergretter mit Sicherheit sagen können: Der Vorsteiger hatte sein Bestes gegeben, um den Absturz zu verhindern. Die Beine hatten wild nach Halt gesucht, der Pickel Spuren am Felsen hinterlassen: Er war ins Eis gefahren, hatte für einen Moment Halt gefunden, der den Sturz jedoch nicht bremsen konnte. Dies muss in Sekundenschnelle geschehen sein – zu schnell, als dass der Nachsteiger die Lage hätten retten können. Über ihm raste der Vorsteiger zwischen Fels- und Eissplittern abwärts. Tempo aufnehmend, stürzte er flach ans Eis gepresst und mit den Füßen voraus mit 120 Stundenkilometern auf seinen Hintermann zu. Der Nachsteiger konnte nur hilflos mit den Armen rudern; innerhalb weniger Sekunden hat er vermutlich gespürt, wie sich das Seil zwischen ihnen spannte, dann ein Ruck, und er wurde mitgerissen.

James Hooper fühlt sich monatelang leer und ausgebrannt. Seine Gedanken kreisen unaufhörlich um das Unglück. Er sucht sich einen Aushilfsjob in einem Londoner Büro. Auch Monate später weiß er noch immer nicht, wie seine Zukunft aussehen wird. Sein Zustand bessert sich erst, als er einsieht, dass manche Fragen nie beantwortet werden können und manche auch besser unbeantwortet bleiben. Vor Kurzem traf er sich mit Gauntletts kleinem Bruder Tim, 20. Sie gingen bergsteigen.

Erschienen in Vanity Fair, November 2010; aus dem Englischen von Stephan Klapdor
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Foto: dpa, Icon International