Kritik der reinen Vernunft

Bisher galten Bibliotheken als hehre Tempel des Intellekts. Doch wenn der Besucher einmal von der Lektüre seines Wälzers aufblickt, so erkennt er, dass es dort mitunter recht amourös zugeht.

Es gibt nichts zu trinken in diesem Raum, es läuft keine Musik, die Anwesenden dürfen sich nicht einmal miteinander unterhalten. Es herrscht eine Atmosphäre der Selbstbezogenheit; manche der Besucher tragen sogar Ohrstöpsel, um sich vollends abzuschotten, einige sind – ein trauriges Bild – an ihrem Platz einfach eingeschlafen und ihre Köpfe liegen wie große Lesezeichen zwischen den Buchseiten.

Die Lesesäle der Staatsbibliotheken – in München an der Ludwigstraße, in Berlin am Potsdamer Platz und Unter den Linden – wirken auf den ersten Blick keinesfalls wie Orte, an denen die Menschen einander näher kommen. Und dennoch werden sie in Zeitungen und Universitätsmagazinen regelmäßig als wichtigste »Kontaktbörse« unter Studenten, als »Heiratsmarkt« bezeichnet. Überall sonst, im Supermarkt, im Café, in einer Kneipe, scheinen die Voraussetzungen günstiger zu sein. Am Nachtleben nehmen die meisten mit dem ausdrücklichen Wunsch teil, jemanden kennenzulernen; in die Staatsbibliothek dagegen geht man, um in Ruhe zu lesen, um sich auf eine Prüfung vorzubereiten oder eine Abschlussarbeit zu schreiben. Jeder neue Besucher bemerkt allerdings schon nach kurzer Zeit, dass sich unter dieser Oberfläche der Konzentration eine zweite, unruhigere Schicht verbirgt, ein vielfältiges Geflecht von Blicken, Sehnsüchten, Hoffnungen, Zurückweisungen. Der lange Mittelgang im Lesesaal der Münchner Staatsbibliothek etwa ist eine Art Laufsteg. Die Stühle in den Reihen links und rechts von ihm weisen zwar gar nicht in seine Richtung, die Zuschauer sitzen parallel zu ihm – dennoch ist das Interesse an den Vorbeilaufenden nicht viel weniger ausgeprägt als beim Publikum von Modeschauen. Vor allem um die Mittagszeit, auf dem Weg in die Pause und zurück, wird das Durchqueren des Gangs aufwendig inszeniert. Studentinnen der juristischen oder medizinischen Fakultät gehen in Zweier- oder Dreiergruppen den Gang Richtung Ausgang entlang, tuscheln miteinander, kichern leise, und man spürt, dass sie all die Köpfe links und rechts, die sich von den Büchern abwenden und kurz zur Seite blicken, genau registrieren. Sie sind ebenso sorgfältig gekleidet wie spätabends in den Bars und Clubs, hohe Stiefel über den Jeans, Perlenketten, weiße Blusen, der Lidstrich frisch nachgezogen (und geht die Tür zu einem der Toilettenräume im Saal auf, sieht man mittags die Ansammlung vor den Spiegeln). Souverän nehmen sie die Parade der Lesenden ab: ein Defilee ohne Ton.

Wenn der Lesesaal ein diskreter Ort der Beobachtung ist, sind die Randbereiche der Bibliothek, die Ausgabeschalter und Bücherregale, die Garderobenschränke und die schmucklose Cafeteria, umso aktivere Knotenpunkte, an denen sich die losen, durch Blickwechsel entstandenen Verbindungen verfestigen. Einer spricht ein Mädchen an, das wie er selbst schon immer kurz vor der Öffnung des Lesesaals an der Pforte steht, um einen der begehrten Einzelplätze am Fenster zu bekommen; ein anderer hat auf den Leihscheinen seiner Favoritin erspäht, welche Nummer ihr Bücherfach hat, und schleicht nun durch die Regale, um sie dort anzutreffen. Und später, nach der ersten Kaffeepause, findet jemand einen Zettel mit einer Handynummer an seinem Platz, »von deiner Nachbarin, drei Plätze rechts von dir, ruf doch mal an nachher«.

Meistgelesen diese Woche:

In der Staatsbibliothek scheinen die Menschen besonders empfänglich zu sein für Fantasien, für Schwärmereien, und wenn man sich fragt, woran das liegt, muss man nur bedenken, dass Ablenkung nirgendwo willkommener ist als an diesem Ort. Viele Studenten haben sich in den Monaten der Examen eine strenge Anwesenheitspflicht auferlegt. Tag für Tag sitzen sie ihre zehn Stunden ab und, gebeugt über Lehrbücher oder Gesetzessammlungen, nutzen sie jede Möglichkeit, um für einen Augenblick abzuschweifen.

Wichtiger ist aber vielleicht noch etwas anderes. Die Einbildungskraft aller Anwesenden ist durch die Stunden der Lektüre aktiviert und die Versenkung in die Buchstaben kann jederzeit auf die Gesichter übergehen. Ohnehin gibt es keine andere Gesellschaft, deren Mitglieder ähnlich still und bewegungslos in einem Raum versammelt sind, ohne dass der Blick auf ein gemeinsames Ziel gerichtet wäre, eine Bühne etwa oder eine Leinwand. Genau diese Mischung aus Konzentration und Mangel eines äußeren Reizes aber schafft die Voraussetzungen, um den Blick unbemerkt schweifen zu lassen, die Gesichter im Raum zu taxieren, immer wieder zu einem bestimmten zurückzukehren. Und vor allem bei jenen, die Romane lesen, kann es geschehen, dass sich Schrift und Umgebung, die Figuren der Geschichte und die Figuren im Raum schließlich langsam überblenden, die schöne Heldin des Romans ihre Verkörperung in einem Mädchen ein paar Reihen weiter findet.In den riesigen Hallen in München oder am Potsdamer Platz in Berlin ist die Fluktuation der Besucher groß; jeden Morgen eine Ansammlung neuer Gesichter, ein Kaleidoskop von Möglichkeiten. Wie anders die Atmosphäre in den kleineren Übergangsräumen der Großbaustelle Unter den Linden, mit ihren zusammengeschobenen Tischgruppen für jeweils vier Leser. Der gesamte Hauptlesesaal bietet Platz für höchstens achtzig Personen, und da der provisorische Betrieb in dem unzugänglichen Gebäude keine Laufkunden anzieht, versammelt sich in diesem Raum, fast wie in einem Großraumbüro, über längere Zeit hinweg eine kaum wechselnde Gruppe von Menschen.

Es ist eigentümlich: Man kennt die Gesichter, ihre Arbeitsfrequenzen und -themen – die disziplinierte Asiatin, Kant-Forscherin, die als Erste kommt und als Letzte geht; der Langzeitdoktorand in Filmtheorie, der jeden Morgen die größte Bibliotheksunsitte überhaupt begeht und seine Schuhe auszieht –, und dennoch hat man mit fast allen noch kein Wort gewechselt.

Einmal, für eine Dauer von wenigen Wochen, tauchte eine atemberaubende Frau im Lesesaal auf. Sie war osteuropäischer, vielleicht russischer Herkunft und machte sich Morgen für Morgen eher für einen Opernbesuch als für einen Arbeitstag in der Bibliothek zurecht: tief ausgeschnittene Kleider, High Heels, langes offenes Haar, die Lippen in einem kräftigen Rotton geschminkt. (An der Garderobe im Eingangsbereich sah man sie häufig im Pelzmantel, trotz ihrer höchstens 27, 28 Jahre.) Alles in allem wirkte sie wie die junge Geliebte eines Oligarchen, die, um auch etwas für den Kopf zu tun inmitten des Überflusses, noch die Abschlussarbeit fertig schrieb, ehe ihr Leben sich endgültig in Yachthäfen und Luxusresorts abspielen würde.

Ihre Präsenz zog die allgemeine Aufmerksamkeit von der Lektüre ab. Wenn sie in den Lesesaal kam, meistens erst gegen Mittag, blickten alle in einer Einmütigkeit in ihre Richtung, wie es sonst nur vorkam, wenn im Raum ein Handy klingelte. In den Stunden ihrer Anwesenheit war an anhaltende Konzentration nicht mehr zu denken; die Entzifferungskünste im Raum galten weniger volkswirtschaftlichen Formeln oder der Lyrik Celans als vielmehr dem Verhalten dieser Frau, der Frage, wer sie war, wie sie hieß (sicher ein russischer Name, Natascha oder Valeska; leider benutzte sie keine bibliothekseigenen Bücher, sonst hätte ein Blick auf die Leihscheine dieses Rätsel lösen können).

Ihr Benehmen im Lesesaal war auffallend nervös und unkonzentriert. Bevor sie sich in ihre Bücher vertiefte, wurden etliche Vorbereitungen getroffen; sie legte jeden Morgen ein ganzes Arsenal bunter Filzstifte auf den Tisch, Taschentücher, eine kleine Dose mit Dragees, schließlich musste das Mobiltelefon in der durchsichtigen Bibliothekstüte noch mehrmals kontrolliert werden. Und hatte sie dann einmal mit dem Lesen begonnen, unterbrach sie es sofort wieder, denn sie verließ den Raum mindestens einmal pro Stunde und trank einen Kaffee in der improvisierten Cafeteria (einer Putzkammer mit Getränkeautomaten), die am anderen Ende des Gebäudes lag.

Die Beschäftigung mit den eigenen Büchern war an manchen dieser Tage nur noch bloße Unterbrechung, ein kurzes Stillhalten, um wieder hochzublicken und zu sehen, was sie tat, um vielleicht sogar einen Blick von ihr zu erhaschen. Die Neugier, woran sie arbeitete, konnte ihrer vielen Pausen wegen rasch gestillt werden; auf dem Weg nach draußen, vorbei an ihrem Tisch, sah man ein wild unterstrichenes Psychiatrie-Lehrbuch liegen, sie bereitete sich offenbar auf ein medizinisches Staatsexamen vor (kein kunst- oder literaturgeschichtliches Thema wie erwartet). Eines Tages kam sie plötzlich nicht mehr, war so ankündigungslos verschwunden, wie sie gekommen war, und es blieb die Frage, ob sie ihre Arbeit beendet oder – was angesichts ihrer Fahrigkeit wahrscheinlicher war – ergebnislos abgebrochen hatte.

Wie viele solcher Episoden, solcher unmerklichen Schwärmereien sich wohl Tag für Tag in den Lesesälen abspielen? Nach außen hin zeigt sich immer noch jene Ansammlung konzentrierter Einzelmenschen, wie sie Rilke in seinen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in einem Abschnitt über die Pariser Bibliothèque Nationale, beschrieben hat: »Es sind viele Leute im Saal, aber man spürt sie nicht. Sie sind in den Büchern. … Du kannst hingehen zu einem und ihn leise anrühren: er fühlt nichts. Und stößt du einen Nachbar beim Aufstehen ein wenig an und entschuldigst dich, so nickt er nach der Seite, auf der er deine Stimme hört, sein Gesicht wendet sich dir zu und sieht dich nicht, und sein Haar ist wie das Haar eines Schlafenden.«

Doch diese Bestandsaufnahme ist längst nicht mehr zeitgemäß (vielleicht auch deshalb, weil 1910 fast ausschließlich Männer in Nationalbibliotheken versammelt waren). Die Leser, die wirklich über Stunden hinweg mit nichts anderem als ihren Büchern befasst sind, bilden mittlerweile die Ausnahme. Alle anderen geben jener Mischung aus Einbildungskraft und Zerstreuungslust nach, welcher gegen Ende der Sechzigerjahre auch eine Jurastudentin aus Yale erlag. Nach Monaten in der Universitätsbibliothek sprach sie einen Kommilitonen namens Bill Clinton an und sagte: »Wenn wir uns weiter so anstarren, sollten wir uns zumindest vorstellen – ich bin Hillary Rodham.« Das berühmteste Bibliothekspaar der Welt hat seitdem zahllose anonyme Nachfahren gefunden.

Foto und Styling: Florian Kolmer; Assistent: Victor Staaf; Haare & Make-up: Servullo Mendez (Basics), assistiert von Franziska Gottschlick (Basics); Models: Lara, Isabel (Viva), Janine (Seeds), Anastasia (Seeds). Vielen Dank an die Berliner Stadtbibliothek (www.zlb.de). Fashion v. l. n. r.: Isabel trägt Wäsche von Fifi (Chachnil), Lara trägt Wäsche von Blush, Janine trägt BH von Blush und Höschen von Divided (H & M), Anastasia trägt Wäsche von Blush, Stockings von Falke.